»Noch einen Kaffee?«
Die Stimme der Kellnerin riss mich aus meinen Gedanken. Ich sah hoch, blickte dann wieder auf meine Tasse hinab und schüttelte den Kopf. Ich hatte den Kaffee, den sie mir vor fünf Minuten gebracht hatte, noch nicht einmal angerührt. »Danke. Ich... habe noch.«
Die Kellnerin – das handgeschriebene Namensschildchen auf ihrer Bluse identifizierte sie als Helen – nahm ein sauberes Gedeck vom Nebentisch und tauschte die Tassen aus. »Er schmeckt nicht, wenn er kalt ist«, sagte sie. »Trinken Sie. Sie sehen aus, als hätten Sie es nötig.«
Sie setzte sich unaufgefordert, schenkte sich selbst eine halbe Tasse ein und fuhr sich erschöpft mit beiden Händen durch das Gesicht, nachdem sie selbst an ihrem Kaffee genippt hatte. »Fünf Minuten«, seufzte sie. »Ich brauche einfach eine Pause – Sie haben doch nichts dagegen?«
Obwohl das Lokal gut besucht war, gab es noch fast ein halbes Dutzend leerer Tische, an die sie sich hätte setzen können. Aber ich konnte verstehen, dass sie nicht allein sein wollte. Nicht an einem Tag wie diesem. So nickte ich, obwohl mir eigentlich nicht nach Gesellschaft war.
»Sind Sie allein?«, fragte sie.
»Nein. Meine Frau ist in unserem Zimmer.«
Helen nippte wieder an ihrem Kaffee, dann fragte sie mit überraschender Direktheit: »Ihr hattet doch keinen Streit, Honey?«
»Nein«, antwortete ich. »Sie ist nur müde. Wir haben nicht gut geschlafen letzte Nacht.«
»Wer hat das schon?«, sagte Helen kopfschüttelnd. Ihr Blick wanderte zum Fernseher. »Ist es nicht furchtbar? Er war so ein netter Mann. Warum tun Menschen so etwas?«
Ich zuckte nur mit den Schultern. Helen sah mich einen Moment lang erwartungsvoll an, dann änderte sich etwas in ihrem Blick und sie stand auf. »Ihnen ist nicht nach Reden zumute, wie?«, fragte sie. »Entschuldigen Sie die Störung.«
Sie ging. Um ein Haar hätte ich sie zurückgerufen, um mich bei ihr zu entschuldigen. Meine Schweigsamkeit hatte nichts mit Unhöflichkeit zu tun. Aber ich hatte nicht auf sie eingehen können. Ich war nicht sicher, ob ich es über mich gebracht hätte, mit den Worten zu antworten, die sie wahrscheinlich erwartete: Weil sie verrückt sind.
Vielleicht hätte ich ihr die Wahrheit gesagt. Auch wenn sie so unglaublich war, dass es selbst mir jetzt manchmal noch schwer fiel, sie zu glauben.
Bach, Majestic-12, die Grauen und die Ganglien... das alles erschien mir plötzlich so bizarr, so irreal, dass es einfach nicht wahr sein konnte; Teil eines Albtraums, in den ich vor mehr als einem Jahr gefallen war und aus dem ich einfach nicht aufzuwachen vermochte, ganz egal, wie sehr ich es auch versuchte. Ein Albtraum, der wie ein Wirbelsturm über Kims und mein Leben hinweggetobt war und es so gründlich durcheinander geworfen hatte, wie es nur ging.
Das Geräusch eines startenden Wagens drang in meine Gedanken. Ich sah hoch, stellte fest, dass der Buick verschwunden und die Telefonzelle leer war, und stand rasch auf. Im Vorbeigehen legte ich eine Dollarnote auf die Theke und erwiderte Helens Nicken; zugleich war ich mir aber auch ihres sonderbaren Blicks bewusst.
Vielleicht war er auch gar nicht sonderbar. Vielleicht – wahrscheinlich – war es ein ganz normaler Blick und ich war es, der irgendetwas hineindeutete, das es nicht gab. Möglicherweise ging die größte Gefahr in einem Leben als Beute nicht von den Jägern aus, die einen hetzten, sondern von der Unfähigkeit, Freund und Feind auseinander zu halten.
Es war dunkel geworden, als ich aus dem Restaurant trat und den Parkplatz überquerte, und kalt. Fröstelnd schlug ich den Mantelkragen hoch und vergrub die Hände in den Taschen; wahrscheinlich sah ich in diesem Moment wirklich aus wie ein Geheimagent in einer Slapstick-Komödie. Streng genommen benahm ich mich sogar so. Wenn mich irgendjemand beobachtete, mochte er sich fragen, warum ich zu der Telefonzelle ging, statt den Apparat im Restaurant zu benutzen, oder den in unserem Zimmer. Ich war mir nicht einmal sicher, ob es einen Unterschied machen würde.
Ich konnte nur mit Mühe den Impuls unterdrücken, mich verstohlen nach allen Seiten umzusehen, bevor ich in die Zelle trat und die Nummer wählte, die ich auswendig gelernt hatte. Das Freizeichen ertönte; zweimal, dreimal, viermal... Bobby Kennedy hatte mir gesagt, dass ich Geduld brauchte, wenn ich diese Nummer wählte, aber es fiel mir unendlich schwer, sie aufzubringen. Endlich brach das Klingeln ab und eine ungeduldige Männerstimme fragte: »Ja?«
»Dark Skies«, antwortete ich. Ob Kennedy wohl geahnt hatte, welch düstere Bedeutung dieses Kennwort erhalten würde, als er es mir vorschlug?
Ich bekam keine Antwort, aber wieder verging Zeit, in der der Telefonhörer stumm blieb, bis auf ein gelegentliches, ganz leises Klicken und Summen vielleicht. Wahrscheinlich wurde das Gespräch weitergeleitet, bis es Robert Kennedy irgendwo erreichte. Ich hoffte, dass das der Grund für die Störgeräusche war. Kennedy hatte mir versichert, dass diese spezielle Nummer absolut abhörsicher sei, und ich betete, dass er damit Recht hatte. Nach einer Ewigkeit meldete sich eine weitere Stimme. Ich wiederholte das Kennwort. Diesmal wurde ich nicht weitergeschaltet, aber es vergingen trotzdem noch einmal gute zwei oder drei Minuten, ehe sich endlich Bobby Kennedys Stimme meldete. »John?«
»Mister Kennedy!«, begann ich. »Ich... ich möchte Ihnen mein Beileid ausdrücken. Es tut mir so unendlich leid. Hätte ich geahnt, was geschieht, dann hätte ich Sie und Ihren Bruder niemals...«
Ich konnte nicht weiter sprechen. Ich hatte zu plappern begonnen, wie ein aufgeregter Schuljunge, und plötzlich war alles, was ich mir im Laufe des Nachmittages sorgsam zurecht gelegt hatte, einfach weg. Mein Herz hämmerte und meine Kehle war wie zugeschnürt.
»Sind Sie in Ordnung, John?«, fragte Kennedy, als ich auch nach endlosen weiteren Sekunden nicht weitersprach.
»Natürlich«, antwortete ich hastig. »Es... es tut mir leid.«
»Was haben Sie damit gemeint?«, fragte Kennedy. Plötzlich klang seine Stimme hart, fordernd und nicht mehr annähernd so sympathisch, wie ich sie in Erinnerung hatte.
»Was?«, fragte ich. Ich wusste genau, was er meinte.
»Gerade, als Sie sagten, Sie hätten nicht geahnt, was geschieht«, antwortete Kennedy. Er atmete hörbar ein. »Wollen Sie damit andeuten, dass... Majestic etwas mit dem Attentat auf meinen Bruder zu tun hat?«
»Nein!«, antwortete ich hastig. »Ich... Es tut mir leid. Es ist alles so verwirrend. Ich weiß selbst nicht mehr, was ich noch glauben soll.«
»Das verstehe ich gut«, antwortete Kennedy. »Wir werden herausfinden, was wirklich passiert ist, John, das verspreche ich Ihnen. Und wir werden die Täter bestrafen. Ganz egal, wer sie sind.« Einen Moment blieb es still und diese Pause sagte mir mehr als alle Worte, dass der Tod seines Bruders diesen Mann keineswegs so ungerührt gelassen hatte, wie es zunächst schien. »Aber es ist gut, dass Sie anrufen, John«, fuhr er schließlich in beherrschtem Tonfall fort. »Ich brauche Ihre Hilfe. Geht es Ihnen und Kimberley gut?«
»Ja«, antwortete ich. »Was kann ich tun?«
»Unser Beweis ist immer noch in Dallas«, sagte Kennedy knapp.
Im ersten Moment verstand ich nicht einmal, wovon er sprach; aber dann erschrak ich bis ins Mark. »Die Folie?«, keuchte ich. »Das Trümmerstück aus Bachs Amulett?«
»John hat es jemandem in Verwahrung gegeben«, bestätigte Kennedy. »In der Nacht, bevor er starb. Wir müssen es zurückhaben. Und im Moment sind Sie so ziemlich der einzige Mensch auf der Welt, dem ich in dieser Angelegenheit noch trauen kann. Und... da ist noch etwas.«
»Sir?«, fragte ich. Das Zögern in seinen Worten gefiel mir nicht.
»Ich habe Bach gesehen«, antwortete Kennedy. »Ich habe nur ein sehr altes, schlechtes Foto von ihm, aber ich bin fast sicher, dass er es war.«
»Wo?«, fragte ich. »Wann?«