Die verblassende Welt, über die er schritt, war nicht leer. Es gab keine Gebäude, keine Straßen und Flüsse, keine Berge und Wälder, ja, nicht einmal einen wirklichen Horizont. Aber es gab Menschen. Er hörte ein dumpfes Dröhnen, das näher kam, Schreie, Lärm. Er sah rennende Menschen, die vor irgend etwas flohen; andere wiederum stürzten, wanden sich in Agonie am Boden und schlugen mit den Händen auf ihre Körper ein. Irgend etwas kroch über sie. Im ersten Moment konnte er es nicht richtig erkennen, dann sah er, daß es Insekten waren, kleine, kriechende Scheußlichkeiten, halb so lang wie eine Kinderhand, aber mit dem Aussehen winziger höllischer Schlachtrösser, gepanzert und voller rasiermesserscharfer Klingen und Stacheln und Zähne. Sie fielen zu Hunderten über ihre Opfer her, bissen mit ihren winzigen Zähnen, stachen mit den Dornen am Ende ihrer gekrümmten Schwänze zu, schnitten mit sirrenden Flügeln in blutendes Fleisch.

Er hörte wieder jenes sonderbare, hämmernde Geräusch und drehte sich herum. Durch die Reihen der sterbenden, schreienden Menschen sprengte eine Anzahl Pferde auf ihn zu. Er konnte ihre Reiter nicht richtig sehen, aber er wußte, daß ihr Anblick ihn erschreckt hätte, hätte er es gekonnt. Die Pferde selbst glichen gigantischen schwarzen Ungeheuern mit Löwenköpfen, aus deren Nüstern Flammen schlugen. Unter ihren Hufen barst die Erde, und wer ihren Weg kreuzte, der wurde gnadenlos niedergeritten. Sie bewegten sich genau auf ihn zu, und er wußte, daß es kein Zufall war. In dieser unwirklichen, grauer werdenden Welt war er nur Zuschauer; weder die Menschen noch die skorpionschwänzigen Heuschrecken, die sie quälten, nahmen ihn wahr – aber die Reiter waren seinetwegen gekommen. Wenn sie ihn erreichten, würde er sterben.

Sie erreichten ihn nicht. Brenner wachte auf.

Sehr viel hatte sich allerdings nicht geändert. Hufschlag, Schreie, Lärm und das Sirren gläserner Schwingen waren verschwunden, aber er befand sich noch immer in einer Welt, die zum allergrößten Teil aus ineinanderfließenden Grauschattierungen bestand und die – wenn auch auf eine vollkommen andere Art – nicht weniger erschreckend war. Möglicherweise war sie sogar schlimmer, denn aus diesem Alptraum würde er vielleicht nie wieder erwachen.

Die Ärzte hatten ihm alles erklärt. Brenner verstand durchaus, woher seine Angst kam – und damit die Träume, in denen sie sich Gestalt verschaffte – , und dieses Verstehen hätte ihm eigentlich helfen müssen, damit fertig zu werden. Zumindestnach Auffassung der Ärzte. Aber auch in diesem Punkt ähnelten sich die Wirklichkeit und die Visionen, die ihn seit drei Tagen quälten. So, wie ihm dort das Wissen, daß er träumte, nicht half, den Traum zu beenden, half ihm hier das Wissen um die Ursache seiner Angst kein bißchen, sie zu bekämpfen. Mit den Schmerze n wäre er fertig geworden. Mit der Dunkelheit nicht.

Brenner setzte sich sehr vorsichtig auf. Die Bewegung bereitete ihm trotzdem Schmerzen, aber er biß die Zähne zusammen und kämpfte sich tapfer in eine halb sitzende, halb auf den rechten Ellbogen gestützte Haltung hoch. Mehr ließen die Verbände und die zahllosen Nadeln, Schläuche, Kabel und Drähte nicht zu, die auf die eine oder andere Weise mit ihm verbunden waren und ihn fesselten wie eine untalentierte Raupe in einem begonnenen Kokon. Sein Rücken übrigens auch nicht. Eines der zahlreichen Wunder, denen er sein Überleben zu verdanken hatte, bestand darin, daß er sich – auch wieder nach Aussage der Arzte, die er aber mit jeder Schmerzexplosion, die durch sein Nervensystem tobte, mehr bezweifelte – keinen einzigen Knochen gebrochen hatte. Und das nach einemTreppensturz, um den ihn jeder Stuntman beneidet hätte, und der Kleinigkeit von einer Schußverletzung an der Schulter. Die Kehrseite der Medaille war, daß er sich jeden einzelnen Muskel im Leib geprellt und wahrscheinlich jede einzelne Sehne gezerrt hatte. Er war nicht etwa mit blauen Flecken und Blutergüssen übersät – sein ganzer Körper war ein einziger blauer Fleck.

Jedenfalls fühlte er sich so.

Brenner gab sich selbst ein paar Sekunden, um sich von der Anstrengung zu erholen, dann drehte er langsam den Kopf nach links; in die Richtung, in der das Fenster lag. Sehen konnte er es nicht. Wo es sein sollte, war nur ein etwas helleres Rechteck in dem allgegenwärtigen Grau, das ihn umgab. Der Anblick goß öl in die schwelende Glut, und für einen Moment drohte er in Panik zu geraten. Aber er kämpfte sie nieder wenigstens für den Augenblick. Panik brachte nichts ein; allerhöchstens eine weitere Spritze, die den Anteil von Blut in seinem Chemiehaushalt noch mehr verringern würde. Daß er das Fenster nicht sah, konnte an vielerlei Gründen liegen. Zum Beispiel daran, daß es draußen dunkel war oder die Jalousien heruntergelassen waren. Außerdem stimmte seine Beobachtung nicht ganz – er konnte das Fenster sehen. Gestern hatte es noch kein graues Rechteck dort drüben gegeben. Es war wohl so, wie die Ärzte sagten: Sein Sehvermögen kehrte zurück. Langsam, aber es kam zurück. Es würde noch ein paarTage dauern, vielleicht sogar eine oder zwei quälende Wochen, aber irgendwann würde er wieder ganz normal sehen können. Hoffentlich.

Er mußte mit seiner Bewegung wohl irgendeine Art von Alarm ausgelöst haben; denn schon nach wenigen Sekunden wurde die Tür geöffnet, etwas klickte, und einen Augenblick später wurde das Grau, in dem er schwamm, heller, wie Nebel, in dem sich rauchige Konturen bewegten.

»Was tun Sie denn da, in Gottes Namen, schon wieder? Sie sollen doch nicht aufstehen. Wissen Sie eigentlich, wie spät es ist?« Das war die Stimme der Nachtschwester. Er hatte sie bisher noch nie gesehen – wie auch? – , aber es war erstaunlich, wie schnell die übriggebliebenen Sinne die Funktionen eines verlorenen zu kompensieren begannen. Seit er aufgewacht war und nicht mehr sehen konnte, hörte und fühlte und roch er Dinge in einer Intensität, die er sich früher nicht einmal hatte vorstellen können.

Vor allem Schmerz.

»Nein, das weiß ich nicht«, antwortete er. »Ich habe ein bißchen Mühe, die Uhr zu erkennen. Die Leuchtziffern scheinen irgendwie kaputtgegangen zu sein.«

»Sehr komisch«, sagte die Schwester. Sie kam mit schnellen, festen Schritten näher und drückte ihn mit keineswegs sanfter Gewalt in die Vertiefung zurück, die sein Kopf in das Kissen gegraben hatte. »Es ist kurz nach drei, wenn Sie es wissen wollen. Drei Uhr morgens. Warum schlafen Sie nicht ein bißchen?«

Brenner suchte nach einer ironischen Antwort, aber er fand keine. Er war müde, aber zugleich wußte er auch, daß er jetzt nicht mehr einschlafen konnte. Mein Gott – war er wirklich erst drei Tage hier? Es kam ihm jetzt schon vor wie drei Monate.

»Es ist langweilig, nicht?« fragte die Schwester. Er war nicht sicher, ob er das Mitgefühl in ihrer Stimme nun hörte, weil es wirklich da war, oder nur, weil er es hören wollte. »Ich kann das verstehen. Manchmal geht selbst für mich die Zeit nicht um. Es ist schlimm, wenn man nichts sieht. Man kann nicht lesen, nicht fernsehen … «

»Sie könnten mir wenigstens ein Radio bringen«, sagte Brenner.

»Was haben Sie gegen unser Krankenhausprogramm?« »Nichts« , maulte Brenner. »Ich kann es inzwischen schon mitsingen.«

Entweder fand sie das nicht sehr komisch, oder sie brauchte ein paar Sekunden, um den Scherz zu kapieren. Sie lachte; allerdings mit Verspätung und nicht sehr echt. »Es tut mir wirklich leid, aber die Technik ist eben gegen uns. Unser Kabelanschluß ist leider immer noch nicht repariert.«

»Und wie wäre es mit einem Kofferradio?« fragte Brenner. »Ein kleines, billiges Gerät mit einer Antenne? Sie wissen schon: diese Dinge, die man herausziehen kann und die dauernd abbrechen?«

»Die Verwaltung gestattet leider keine privaten Geräte«, antwortete die Schwester. »Außerdem hätten Sie nicht viel davon. Wir liegen hier in einer Art Funkloch. Sie würden nur Störungen empfangen.«


Перейти на страницу:
Изменить размер шрифта: