Aber er wollte nicht, daß sie ihn so fanden; als zitterndes Bündel, das vielleicht schreien, vielleicht sogar um sein Leben betteln würde, wenn die Qual und die Furcht größer wurden. Wenn er sterben mußte, dann wie ein Mann: allein und ohne daß jemand seine Schreie hörte.

Mit zusammengebissenen Zähnen setzte Salid sich auf, kämpfte einen Moment gegen Übelkeit und Schwindel und stellte überrascht fest, wie leicht es ihm fiel. Es war, als schöpfe sein Körper jetzt, wo er nichts mehr zu verlieren hatte, noch einmal aus dem ganzen Reservoir der Lebenskraft, die noch für Jahrzehnte hätte ausreichen sollen.

Salid sah zum Kloster zurück. Das Gebäude war vollkommen zerstört. Seine Mauern standen noch, aber Salid hatte die Explosion gesehen, in der der Apache zerborsten war; was er erblickte, konnte nicht mehr als eine leere Hülle sein, eine geschwärzte Schale aus Stein, aus der alles Leben herausgebrannt worden war. Sämtliche Dächer waren eingestürzt und brannten. Die wenigen Fenster hatten sich in schwarzgeränderte Wunden verwandelt, aus denen Rauch, hier und da auch Flammen quollen, und der Himmel über dem Kloster reflektierte das blutigrote Licht der Glut, die noch immer in seinem Innenhof toben mußte. Salid schauderte leicht. Alle Munitions-und Treibstoffvorräte des Apache mußten auf einen Schlag explodiert sein, eine Sekunde nachdem die Maschine hinter den gewaltigen Mauern des Gebäudes verschwunden und wahrscheinlich noch bevor er auf dem Boden aufgeschlagen war. War es wirklich Zufall, dachte er, daß ihn nur eine einzige Sekunde vor dem sicheren Tod bewahrt hatte – nur damit er jetzt und auf qualvollere Weise starb?

Er vertrieb den Gedanken. Die Qual würde nicht mehr lange währen. Die Strömung hatte ihn an dem brennenden Gebäude und dem Wrack der Maschine vorbeigetragen, aber längst nicht so weit, wie er geglaubt hatte. Vielleicht dreißig Meter bis zum Tor, allerhöchstens vierzig bis zum Wrack des Choppers. Er mußte dorthin. Das Gewehr war ihm bei seinem Sturz aus den Händen gerissen worden und im Fluß versunken, aber er brauchte eine Waffe. Die Strecke war weit, aber er konnte es schaffen, selbst wenn er auf Händen und Knien kriechen mußte.

Sein erster Versuch endete mit einem Schmerzensschrei. Salid stürzte zurück in den Morast, kaum daß er auch nur versuchte, das verletzte Bein zu belasten. Es war, als würde ein rotglühender Speer durch seine Fußsohle hindurch und mit einem einzigen harten Ruck bis in die Schulter hinauf gerammt.

Der Schmerz war so schlimm, daß er sich zwei-, dreimal hintereinander übergab, ehe er schließlich doch in die gnädige Dunkelheit einer Ohnmacht floh, von der er wußte, daß ihr eine tiefere, endgültigere Dunkelheit folgen mußte.

FREI.

NACH SO LANGER ZEIT

ENDLICH, ENDLICH FREI!

Er erwachte mit einem Gefühl tiefer Bitterkeit. Seine Bewußtlosigkeit hatte lange gedauert, das spürte er, und es war kein dunkler Schacht gewesen, in den er gestürzt war, sondern ein Brunnen der Schmerzen, angefüllt mit dem Feuer und Licht der Dschehenna, mit Erinnerungen und Bildern, mit Visionen des Wahnsinns und Zweifel. Aber er lebte. Die Hölle hatte ihn gehabt und wieder ausgespien, als hätte nicht einmal der Teufel selbst ihn haben wollen. Salid versuchte sich zu bewegen und konnte es nicht. Seine Beine waren taub. Er lag mit dem Gesicht in einer Pfütze seines eigenen Erbrochenen, und der Ekel, den diese Erkenntnis in ihm wachrief, hätte ihn sich erneut übergeben lassen, hätte er noch die Kraft dazu gehabt.

Daß er lebte, war keine Gnade. Ganz plötzlich begriff er, daß derTod ihn nicht verschont, sondern verschmäht hatte. Dies war die Strafe, die der Allmächtige für ihn bereit hielt. Er würde nicht den Tod eines Kriegers sterben, sondern das Leben eines Verdammten führen, ein Krüppel, für den man nicht einmal mehr Verachtung übrig hatte, sondern nur noch Mitleid. Die Hölle, die Salid erwartete, hieß Leben.

Wieder verstrich Zeit, die endlosen ersten Minuten der Ewigkeit, die vor ihm lag. Dann hörte er Geräusche – ein fernes, an-und abschwellendes Wimmern und Heulen, das einTeil seines Bewußtseins als Sirenenklang identifizierte, ohne daß dieses Erkennen wirklich an sein Denken drang: das Brummen eines Motors, Lärm, Stimmen? Noch einmal regte sich etwas wieTrotz in ihm, ein verzweifeltes Aufbegehren, das ihn die Gewißheit, die Strecke bis zum Wrack des Choppers und der erlösenden Waffe darin niemals bewältigen zu können, einfach ignorieren ließ. Seine Hände gruben sich in den weichen Schlamm, versuchten, die Zentnerlast seines Körpers vorwärts zu ziehen, und schafften es nicht. Eine Woge grausamer Schmerzen explodierte in seiner Hüfte. Salid schrie. Von einer Sekunde auf die andere waren seine Beine nicht mehr taub, sondern standen in Flammen.

Dann spürte er, daß er nicht mehr allein war.

Mühsam öffnete er die Augen, hob sein besudeltes Gesicht und sah zu der Gestalt empor, die neben ihm stand.

Und begriff …

»Nein!« keuchte er. »Nein! Nein! Bitte … bitte NICHT!« Die Gestalt stand lange und schweigend da und blickte auf Salid herab. Sie reagierte nicht, nicht auf seine Worte, nicht auf das verzweifelte Flehen in seinem Blick, nicht auf das Entsetzen, das er verströmte wie eine explodierende Sonne weißes Licht. Sie stand einfach da und sah aus Augen auf ihn herab, die älter als diese Welt waren und die so mühelos in Salids Inneres blickten, als wäre er aus Glas. Sie erriet seine intimsten Gedanken, überblickte sein Leben in einer einzigen Sekunde und sah Dinge, die selbst er nicht wußte und niemals hatte wissen wollen.

Salid begann zu weinen. »Scheijtan«, wimmerte er. »Scheijtan. Scheijtan. « Immer und immer wieder dieses eine Wort. Er krümmte sich, versuchte die Augen vor dem Anblick dieses Gesichtes zu verschließen und konnte es nicht. Die bloße Nähe der Gestalt lähmte ihn. Er konnte sich nicht mehr bewegen. Nicht mehr atmen. Nicht mehr denken.

Langsam und ohne Hast beugte sich die Gestalt zu Salid herab, streckte die Hand aus und berührte seine zerfetzte Hüfte, und der Schmerz erlosch. Zugleich verschwand die Angst. Wo Furcht und Panik gewesen waren, fühlte Salid plötzlich nichts als eine große, warme Leere. Er wollte es nicht, aber er hob den Kopf und sah ins Gesicht der Gestalt, und auch das Entsetzen, das er bei diesem Anblick empfunden hatte, war nicht mehr da.

Die Gestalt lächelte. »Steh auf und geh«, sagte sie, und der Mann, der Abu el Mot, der Vater desTodes, gewesen war, erhob sich und verschwand mit schnellen Schritten im verschneiten Unterholz.

Der Wiedersacher any2fbimgloader3.png
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Irgend etwas stimmte mit der Sonne nicht. Ihr Licht war so grell, daß es in den Augen schmerzte, selbst wenn er nicht in den lodernden Ball am Himmel hineinsah, aber es erhellte die Welt trotzdem nicht. Alles war grau, blaß, und selbst die Schatten waren keine richtigen Schatten; so, wie es nirgends richtig hell wurde, wurde es auch nirgends richtig dunkel. Tag und Nacht näherten sich einander, als hätte die Welt zu verblassen begonnen. Vielleicht würden sie sich irgendwann auf einem imaginären Punkt zwischen Hell und Dunkel treffen, und alles würde nur noch grau sein – eine allumfassende Ödnis, in der nichts mehr zählte, eine Welt ohne Unterschiede, ohne Hell und Dunkel, Gut und Böse, Freude und Leid. Vielleicht die erschreckendste Vision der Hölle, die er bisher gehabt hatte.

Es war nicht die erste. In den drei Tagen, die er jetzt hier war, hatte er zahlreiche Alpträume gehabt, und jeder schien ein bißchen schlimmer zu sein als der davor. Er träumte oft von der Hölle, vom Weltuntergang, der Apokalypse, Harmageddon, der letzten Schlacht zwischen Gut und Böse. Und das war nicht das einzig Eigenartige. Noch schlimmer war, daß er wußte, daß er träumte, während er träumte. Dieses Wissen, das ihn eigentlich dazu hätte bringen müssen, auf der Stelle zu erwachen, machte es nicht besser; es gab diesen Träumen ein Gewicht, das ihnen nicht zustand. Es machte sie … realer. Sie blieben völlig absurd und bar jeder Logik, aber sie wurden von etwas, das nie gewesen war, zu etwas, das vielleicht sein würde.


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