Alles war schon schlimm genug, aber daß die elende Kutsche auch noch pünktlich eingetroffen war, ausgerechnet an diesem Abend, das machte es für Herrick noch schwerer.
Neben dem Hoftor blies ein einbeiniger Krüppel, mühsam auf einer primitiven Krücke balancierend, zum Vergnügen einiger Straßenjungen und Passanten eine Melodie auf seiner Querpfeife. Er trug den roten Rock der Seesoldaten, und der dunklere Fleck auf dem abgewetzten Ärmel, wo einst der Winkel aufgenäht gewesen war, verriet Herrick, daß er einen alten Sergeanten vor sich hatte.
Er tastete nach ein paar Münzen in der Rocktasche und warf sie dem Krüppel in die Mütze, beschämt, peinlich berührt und vor allem wütend darüber, daß solch ein Mann so elend dahinvegetierte. Aber bis es endlich zum Friedensschluß kommen würde, mußten bestimmt noch viel mehr Rotröcke verkrüppelt in den Straßen betteln.
Doch der Mann ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Breit grinsend hob er die Hand an die Stirn und salutierte spöttisch.
«Sergeant Tolcher, Sir. So geht's einem im Leben, wie, Kapitän?»
Herrick nickte bedrückt.»Von welchem Schiff?»
«Mein letztes, Sir? Das war die alte Culloden, unter Käpt'n Troubridge. War'n richtiger Gentleman, unser Käpt'n, jedenfalls für einen Seeoffizier.»
Herrick hätte längst bei Dulcie sein müssen, aber irgend etwas hielt ihn hier zurück. Dieser unbekannte Marinesoldat hatte an der Schlacht von Abukir teilgenommen, hatte wie er selbst und Bolitho vor der Nilmündung gekämpft. Auf einem anderen Schiff zwar, aber immerhin.
«Viel Glück, Kamerad. «Mit diesen Worten wandte Herrick sich ab und eilte zum Eingang.
Der Marinesoldat schob die Münzen in die Tasche und grämte sich, daß er einen guten Zuhörer verloren hatte. Aber dieser stämmige Kapitän mit den auffallend blauen Augen hatte ihn für manches entschädigt.
Außerdem hatte er jetzt genug beisammen für ein paar Krüge Bier mit den alten Kumpels unten im Volunteer. Der Ex-Sergeant der Culloden humpelte davon, wobei seine Krücke laut über das Steinpflaster kratzte.
Als Herrick das Zimmer betrat, standen beide Frauen da und warteten, der Tür zugekehrt, als hätten sie seit Stunden auf demselben Fleck verharrt.
Er wandte sich zunächst an Dulcie.»Tut mir leid, Liebste, aber ich wurde aufgehalten. Neue Befehle.»
Die plötzlich in den Augen seiner Frau aufsteigende Furcht sah er nicht mehr, weil sich seine Aufmerksamkeit jetzt auf Belinda konzentrierte, die neben dem kalten Kamin stand.
Herrgott, wie schön sie ist, dachte er. Sie trug ein flaschengrünes Reisekleid und hatte das volle, kastanienbraune Haar mit einem passenden Band im Nacken zusammengebunden. Aber sie war blaß, die großen braunen Augen schienen das ganze Gesicht zu beherrschen, als sie fragte:»Gibt es Neuigkeiten, Thomas?»
Herrick war gerührt von so viel Selbstbeherrschung und auch davon, daß sie ihn so selbstverständlich mit seinem Vornamen ansprach.
«Nein, noch nicht«, antwortete er. Er ging zu einem kleinen Tisch, nahm ein Glas auf, stellte es wieder hin.»Aber Neuigkeiten brauchen eben ihre Zeit, bis sie eintreffen. Gute Neuigkeiten, meine ich.»
Endlich konnte er auf sie zugehen und ihre Hände in seine nehmen. In seinen harten Seemannspranken fühlten sie sich sehr weich an — und sehr hilflos.
Leise sagte Belinda:»Dulcie hat mir berichtet, was Sie ihr geschrieben haben. Und einige Offiziere in der Gaststube unten haben davon gesprochen, daß ein Schiff untergegangen sei. Besteht noch Hoffnung?»
Sie hob den Blick zu ihm, so flehend, daß ihre äußere Ruhe Lügen gestraft wurde.
Herrick seufzte.»Im Augenblick wissen wir noch viel zu wenig. Die Küste dort ist ziemlich gefährlich; soweit ich in Erfahrung bringen konnte, war es eine Kollision, möglicherweise mit einem Wrack, wonach Styx wegsackte und ziemlich schnell unterging.»
Inzwischen hatte Herrick die Szene im Geiste hundertmal nacherlebt, sogar bei der Kommandantenbesprechung, als er seinen Untergebenen die neuen Befehle erläutert hatte. Er wußte nur zu gut, wie das Unglück abgelaufen sein mußte, schließlich hatte auch er schon ein Schiff verloren. Die Schreie, dazu das Krachen und
Knallen der brechenden Takelage gellten ihm noch im Ohr, er sah sie immer wieder vor sich, die Ertrinkenden: Manche starben lautlos, andere verfluchten Gott und die Welt und selbst den Namen ihrer Mutter, ehe die See ihnen den Mund verschloß.
«Aber Ihr Richard hatte tüchtige Männer um sich«, fuhr er fort, um Belinda etwas zu beruhigen.»Allday wich bestimmt nicht von seiner Seite, und der junge Neale war ein erstklassiger Kapitän.»
Belinda warf Dulcie einen schnellen Blick zu.»Wer wird es seinem Neffen sagen?»
Sehr sanft ließ Herrick ihre Hände los.»Das ist nicht notwendig. Adam war selbst dort. An Bord des Schiffes, das. «Gerade noch rechtzeitig verschluckte er den Rest des Satzes.»Adam war auf Phalarope, die das Flaggschiff begleitete.»
Dulcie Herrick griff sich an die Brust.»Gott helfe dem Jungen.»
«Aye. Es muß furchtbar für ihn sein.»
Belinda Laidlaw setzte sich — zum erstenmal, seit sie aus der Postkutsche gestiegen war.
«Kapitän Herrick. «Sie rang sich ein Lächeln ab.»Oder besser: Thomas. Denn Sie sind sein Freund und jetzt, so hoffe ich, auch meiner. Also, Thomas, was ist Ihrer Ansicht nach geschehen?»
Herrick spürte, daß seine Frau ihm ein Glas Wein in die Hand drückte, und warf ihr einen dankbaren Blick zu.
Dann sagte er:»Richard ist insgeheim immer ein Fregattenkapitän geblieben. Wenn es nur nach ihm ginge, würde er ohne großen Zeitverlust den Feind stellen und angreifen. Aber als kommandierender Konteradmiral hatte er andere Verpflichtungen. Er mußte Admiral Beauchamps Pläne in die Tat umsetzen und die wachsende Gefahr einer Invasion Englands abwenden. Nur das war seine Aufgabe. «Um Verständnis bittend sah er Belinda an.»Mein Gott, Ma'am, wenn Sie wüßten, wie er sich gegrämt hat, was es ihn gekostet hat, so schnell wieder in See zu stechen, ohne Sie auch nur gesehen zu haben, ohne Ihnen alles erklären zu können. Als wir uns das letztemal sahen, war sein größter Kummer das Leid, das er
Ihnen antun mußte. Aber wenn Sie Richard wirklich kennen«, sagte er abschließend und mit Nachdruck,»dann werden Sie verstehen, daß seine Ehre ihm genauso wichtig ist wie seine Liebe zu Ihnen.»
Sie nickte mit feuchten Augen.»Das weiß ich nur zu gut und möchte es auch gar nicht anders. Obwohl wir uns erst letztes Jahr kennengelernt haben. Und in der ganzen Zeit seither war ich immer nur wenige Tage mit ihm zusammen. Wie ich Sie beneide, Thomas, daß Sie so vieles gemeinsam mit ihm erleben durften, daß Sie so viele Erinnerungen teilen, die mir immer fremd bleiben werden. «Sie schüttelte den Kopf, wobei ihr das lange Haar über die Schulter fiel.»Nein, Thomas, ich werde ihn niemals aufgeben. Und jetzt schon gar nicht.»
Tränen rannen ihr über die Wangen, aber als Dulcie und Herrick tröstend auf sie zukamen, wehrte sie ab.»Nein, nein, danke, es ist schon gut. Ich werde nicht in Selbstmitleid schwelgen, wenn Richard mich braucht.»
Herrick konnte sie nur anstarren.»Ihre Worte wärmen mir das Herz, Ma'am. Aber erhoffen Sie sich nicht zuviel, versprechen Sie mir das. Sonst könnten Sie die Enttäuschung nicht ertragen.»
«Zuviel erhoffen?«Sie ging zu den offenen Fenstertüren hinüber, eine schmale Silhouette vor See und Himmel, und trat auf den Balkon hinaus.»Das wäre mir gar nicht möglich. Richard ist das einzige, wofür ich lebe. Alles andere ist mir unwichtig geworden, lieber Freund.»
Herrick spürte, daß Dulcie nach seiner Hand griff, und erwiderte den leichten Druck. Belinda mußte sich aus eigener Kraft wieder fangen, und ob sie es schaffen konnte, würde nur die Zeit erweisen.
Er sah auf seine Frau hinab, als sie flüsterte:»Du hast vorhin von neuen Befehlen gesprochen, Thomas?»
«Vergib mir, Liebste. Ich war in Gedanken ganz bei diesem Unglück hier. «Mit einem Blick auf Belinda, die ins Zimmer zurückkehrte, fuhr er fort:»Ich habe Befehl erhalten, einen Konvoi aus Handelsschiffen nach Gibraltar zu eskortieren. Soweit ich weiß, sind es Schiffe mit ziemlich wertvollen Ladungen, die auch in Friedenszeiten verlockende Prisen wären.»