Lion kehrte zurück und setzte sich wieder in den Sessel. Als ob ich nicht im Zimmer wäre. Das Einzige, was er nach wie vor gern machte, war fernsehen. Bei den Modulen ist es genauso.
»Hast du gegessen, Lion?«, erkundigte ich mich ohne Hintergedanken.
»Ja.«
Ich sprang von der Lehne herunter und schaute ihm in die Augen. Er schien nicht zu schwindeln.
»Wirklich? Du hast gegessen, ehrlich? Du wolltest essen?«
»Ehrlich, ich habe gegessen«, antwortete Lion. »Ich wollte.«
Ging es etwa so schnell?
Jeder sagte mir, dass sich Lion früher oder später erholen und wie früher sein würde. Das Gehirn, besonders das jugendliche, wäre ein flexibles System und der Wille würde zurückkehren. Zuerst bei den elementarsten Bedürfnissen, den »vitalen«, wie sich der Arzt ausgedrückt hatte. Danach vollständig. Aber niemand hatte erwartet, dass es so bald passieren würde.
»Lion«, flüsterte ich, »hör mal, was bin ich froh! Du bist ein Prachtkerl, Lion!«
Er erwiderte nichts, denn ich hatte ihm ja keine Frage gestellt.
»Vielleicht hast du auch noch abgewaschen?«, wollte ich wissen, um ihn zum Reden zu bringen.
»Nadja hat abgewaschen«, erwiderte Lion bereitwillig.
Und meine ganze Freude verschwand ins Nichts.
»Also hat dir Nadjeschda zu essen gegeben?«
»Ja. Sie kam und fragte, ob ich essen möchte«, antwortete mein Freund ruhig. »Ich sagte, dass ich möchte. Ich aß. Dann wusch sie das Geschirr ab. Wir unterhielten uns. Danach fing ich an, ein Video anzusehen.«
»Du bist ein guter Junge«, wiederholte ich, obwohl keine Freude geblieben war. »Ich gehe zur Arbeit, Lion. Ich werde sehr spät zurückkommen. Wenn sich der Videorekorder ausschaltet -«, ich hob die Fernbedienung auf und programmierte den Timer, »- gehst du schlafen. Du wirst dich ausziehen, dich unter die Decke legen und schlafen.«
»Gut, Tikkirej. Ich habe alles verstanden.«
Ich rannte fast aus der Wohnung. Eigentlich hatte ich noch Zeit, aber ich drängte aus der Tür, verharrte auf dem Treppenabsatz und biss mir auf die Lippen.
Wie enttäuschend! Wie schade!
»Tikkirej…«
Ich wandte mich um und erblickte Nadjeschda. Sie war Krankenschwester und wohnte in der Nachbarwohnung. Deshalb hatten wir auch vereinbart, dass sie nach Lion schaute. Ihr Spion war sicher auf mein Erscheinen programmiert.
»Guten Tag«, grüßte ich. Nadjeschda ist noch nicht sehr alt, etwa dreißig. Sie sieht zwar immer sehr streng aus und hat eine kratzige, verrauchte Stimme, ist aber ein guter Mensch. Nur dass ich immer unsicher werde, wenn sie da ist.
»Ich war bei euch und habe Lion zu essen gegeben.«
»Ich weiß.«
Nadjeschda kam auf mich zu und schaute mir in die Augen:
»Was hat dich so durcheinandergebracht, Tikkirej?«
»Ich… ich dachte, dass er von allein gegessen hätte.«
Sie holte Luft, nahm eine Zigarette, schnippte mit dem Feuerzeug und sagte entschuldigend: »Mein Gott, ich habe keinen Gedanken daran verschwendet, dass er…«
»Er wird sich trotzdem wieder erholen«, meinte ich starrköpfig.
»Ja, Tikkirej.« Nadjeschda richtete sich auf und sah mich an. »Vielleicht sollte man Lion doch lieber zur Therapie in ein staatliches Krankenhaus bringen? Sie haben sich ja bereit erklärt, ihn kostenlos zu behandeln, und dort gibt es gute Spezialisten, glaub mir!«
»Das glaube ich. Aber ihm geht es besser bei mir.«
»Hast du Bedenken wegen der Schocktherapie?«
Ich nickte. Sie schreckte mich wirklich ab. Ich war zum gesetzlichen Vormund für Lion bestellt worden, und deshalb wurde ich umfassend darüber aufgeklärt, was dort mit meinem Freund gemacht werden würde.
»Zeitweise erscheint das grausam«, stimmte Nadjeschda zu, »alle diese Tests mit Aushungern, Schmerzerregung… aber du musst einsehen, Tikkirej, dass man im Krankenhaus eine reiche Erfahrung mit der Rehabilitation ehemaliger Module hat. Dein Freund würde ein oder zwei Jahre eines vollwertigen Lebens gutmachen. Wenn auch für den Preis einiger unangenehmer Prozeduren.«
»Er wird hungrig dasitzen und vor ihm wird das Essen stehen«, murmelte ich, »so ist es doch? Und nur wenn Lion vor Hunger das Bewusstsein verliert, wird man ihm befehlen zu essen!«
»Ihm wird nicht befohlen. Er wird zwangsernährt. Aber man wird von ihm eigenständige Entscheidungen erzwingen, und er wird lernen, sie zu treffen.«
»Ja, und der Sessel wird ihm Stromschläge verpassen, und er wird beim Lärm und dem Geheule von Sirenen schlafen und…« Ich verstummte, denn es war schon ekelhaft, daran zu denken.
Nadjeschda drückte die Zigarette direkt an der Wand aus, die feuerfeste Farbe zischte und schäumte und die Glut erlosch augenblicklich. Deshalb also sind alle unsere Wände mit aufgeplatzten Bläschen übersät! Und der Hausmeister hatte mich so argwöhnisch angesehen, als er mich danach fragte!
»Tikkirej, als medizinischer Insider kann ich dir nicht zustimmen«, äußerte sie, »aber du machst es richtig. Du bist ein guter Freund. Wenn Lenotschka alt genug ist, werde ich versuchen, sie mit dir zu verheiraten.«
Ich lächelte verdutzt. Lenotschka, Nadjeschdas Tochter, war etwa fünf Jahre alt, und ich wusste nicht, wie ich mich vor ihren Küssen und Umarmungen retten sollte. Sie hatte mich sofort zu ihrem älteren Bruder ernannt, den sie nach Beendigung der Schule heiraten würde. Sie hätte lieber auf Lion fliegen sollen, ihm war sowieso alles egal!
»Schon gut, hab keine Angst! Sie wird schon bald aufhören, dich mit angelutschten Bonbons zu füttern und dich darum zu bitten, Märchen über tapfere Phagen zu erzählen«, versprach Nadjeschda. »Wenn du möchtest, fahre ich dich zur Arbeit.«
»Nein, danke, ich nehme den Bus«, erwiderte ich schnell. »Es wäre schön, wenn Sie abends noch einmal nach Lion schauen könnten. Nicht dass er wieder nicht schlafen geht und nur Fernsehen schaut!«
»Das mache ich auf alle Fälle«, sagte Nadjeschda, »Ich sehe nach ihm und bringe ihn ins Bett. Mach dir keine Sorgen.« Im kleinen Windfang am Eingang zum Office speichelte ich meinen Finger ein und steckte ihn in die Detektoröffnung. Gleichzeitig schaute ich in die Linse der Kamera, die meine Netzhaut abglich, aber das war Blödsinn. Die sicherste Überprüfung ist die genetische, da man Fingerabdrücke fälschen, Fingerkuppen transplantieren oder ein Passwort durch Foltermethoden erfahren könnte. Es ist entschieden tauglicher, die Epithelzellen und Erythrozyten, die generell im Speichel vorkommen, zu überprüfen.
Immer wenn ich den Finger an die Detektorfläche hielt, war ich etwas aufgeregt.
Unter der Kontaktfläche befand sich eine Nadel mit einem Serum, das einen Menschen in zwei Sekunden unschädlich macht. Wenn die Genanalyse ergibt, dass ein Fremdling in den Windfang eingedrungen ist, sticht die Nadel zu.
Es war natürlich alles in Ordnung. Die Tür öffnete sich und über ihr leuchtete ein grünes Lämpchen auf. Ich trat ein und grüßte den Wachmann.
»Hallo, Tikkirej«, erwiderte er, »du bist heute ziemlich zeitig.«
»Ich hatte nichts weiter zu tun«, erklärte ich.
Es gefiel mir sehr, wie man sich mir gegenüber am Arbeitsplatz verhielt. Niemand machte sich über mein Alter oder meine Herkunft von einem anderen Planeten lustig.
Und auch umgekehrt: Niemand behandelte mich mit besonderer Rücksicht.
Als Stasj meinetwegen verhandelte, schlug er mir drei Arbeiten zur Auswahl vor: die erste im analytischen Zentrum, das Informationen über alle Planeten des Imperiums sammelte. Die zweite als Techniker auf dem Kosmodrom der Phagen. Wenn man dort gearbeitet hatte, war es leicht, auf einer Pilotenschule angenommen zu werden. Und die dritte in einer Firma, die Waffen untersuchte und entwickelte.
Ich entschied mich für die Waffenfirma.
Hauptsächlich deshalb, weil ich hier am wenigsten arbeiten brauchte, und das bedeutete, dass ich Lion nicht in ein Krankenhaus geben musste. Im Großen und Ganzen habe ich es nicht bedauert. Ich bekam die Funktion eines Hilfstechnikers und ein Arbeitszimmer — na ja, nicht für mich allein, sondern zusammen mit Boris Petrowitsch Tarassow, der Cheftechniker und mein Vorgesetzter war.