»Tikkirej«, sagte Rossi. »Ich habe heute zu Hause ziemlich etwas abgekriegt. Ich und Rosi… Glaub nicht, dass mein Vater so ein… Schluckspecht und Schwätzer ist. Er hat mich heute richtig zur Brust genommen. Nur… mir ist das alles eigentlich auch so klar. Ich brauche keine Erklärungen. Ich würde alles dafür geben, dass du noch einmal durch das Eis brichst und ich dich retten kann!«
Ich dachte, dass ich durchaus nicht noch einmal einbrechen wollte. Sogar wenn man mich retten würde. Stattdessen sagte ich: »Rossi, wenn du erneut in so eine Situation kommst, wirst du alles richtig machen. Auf jeden Fall!«
»Ja, nur für dich bin ich jetzt ein Feind«, äußerte Rossi bitter.
»Nein!«
»Aber auch kein Freund.«
Darauf schwieg ich.
»Wir werden die Schule wechseln«, flüsterte Rossi, »ich habe die Eltern selbst darum gebeten… Sie waren einverstanden.«
»Rossi, das ist nicht nötig. Ich werde niemandem erzählen, was passiert ist!«
»Ich brauche das«, bekräftigte Rossi.
Und mir war klar, dass er Recht hatte. Trotzdem sagte ich: »Rossi, ich bin dir wirklich nicht böse. Und möchte gemeinsam mit euch lernen.«
»Nein, Tikkirej. Das bringt nichts. Hauptsache, du verzeihst mir, ja? Und entschuldige, dass ich dich geweckt habe. Gute Nacht!«
Er beendete das Gespräch.
Ich legte das Telefon auf den Boden neben das Sofa, kuschelte mich ins Kopfkissen und dachte daran, wie gut es jetzt wäre, ein wenig zu jammern und vielleicht sogar richtig loszuheulen.
Wenn jetzt die Eltern in der Nähe wären, die mein Weinen hören könnten und kommen würden, hätte ich das auch gemacht.
Aber ich hatte keine Eltern mehr. Schon seit zwei Monaten waren sie nicht mehr da.
Deshalb schloss ich einfach die Augen und versuchte einzuschlafen. Ich hatte Glück, ich wurde nicht krank. Als ich am Morgen erwachte, war alles in Ordnung. Ich hatte lediglich großen Durst.
Und außerdem war ich sehr traurig.
Lion fand ich in der Küche. Er saß am Fenster und trank Tee mit Konfitüre.
»Grüß dich«, sagte ich. Es war eine eigenartige Atmosphäre — so wie am Tag nach einem schweren Examen oder… oder wie an dem Tag, an dem meine Eltern für immer gegangen waren. Zu viel war gestern passiert.
»Grüß dich«, Lion wandte sich kurz um. »Hier ist es aber schön, hm?«
Ich nickte, goss mir Tee ein und setzte mich neben ihn. Ich wunderte mich überhaupt nicht, als Lion fragte:
»Was glaubst du, wie es meinen Eltern geht?«
»Na, sie leben…«, murmelte ich.
»Das ist mir klar.« Lion nickte, »sie sind jetzt so, wie ich war? Zombies?«
»Stasj meinte, dass dem nicht so wäre. Dort hätten sich wohl alle normalisiert. Nur dass sie sich jetzt an Inej angeschlossen hätten und der Meinung seien, dass das der beste Planet im Imperium wäre.«
Stasj hatte wirklich berichtet, dass auf Neu-Kuweit alles alltäglich und friedlich erscheine. Die Menschen würden arbeiten und sogar feiern, als ob nichts passiert wäre. An die Nacht, als der ganze Planet einschlief, erinnerten sie sich nicht. Als ein persönlicher Gesandter des Imperators auf Neu-Kuweit ankam, hätte ihn der Sultan begrüßt und erklärt, dass alles seine Ordnung hätte, keine Aggression gegen sie erfolgt wäre und sie sich freiwillig Inej angeschlossen hätten… In jener Nacht hätte es lediglich kleine Unruhen durch Fans des Baseballklubs »Ifrit« gegeben. Die Jugendlichen, die über die Niederlage ihrer Mannschaft wütend waren, hätten sich betrunken und das Kosmodrom und das Zentrum für kosmische Verbindungen besetzt. Es hätte Opfer gegeben. Aber zum Morgen wäre die Ordnung wiederhergestellt gewesen und es gäbe seitdem keine neuen Probleme auf Neu-Kuweit.
Am traurigsten war laut Stasj, dass der Imperator keine Handhabe hätte, sich einzumischen. Denn jeder Planet kann ein Bündnis mit einem anderen schließen, wenn dieses Bündnis freiwillig ist. Aber in diesem Fall gelänge es nicht zu beweisen, dass Neu-Kuweit erobert wurde, dass seine sämtlichen Bewohner programmiert wurden. Das Einzige, was im Imperium gemacht würde, sei die Überprüfung aller Filme und Lehrprogramme, besonders der auf Inej produzierten. Wenn festgestellt wurde, dass in ihnen nicht zu entziffernde Informationen enthalten waren, würden diese Programme verboten.
Derartige Programme hätte man in großer Zahl gefunden. Gut wäre nur, dass auf der Erde, dem Edem und dem Avalon, den am meisten entwickelten Planeten des Imperiums, Filme von Inej nicht so populär waren. Aber sogar hier könnten ungefähr zwanzig Prozent der Bevölkerung innerhalb eines Augenblicks in Zombies verwandelt werden. Und das sei sehr viel…
Deshalb gäbe es keinen Krieg, die Flotte bekäme keinen Befehl, zum Inej zu fliegen, und die Wissenschaftler versuchten immer noch, das Geschehene zu verstehen.
»Der Imperator wird auf alle Fälle herausfinden, was passiert ist«, meinte ich, »und Neu-Kuweit wird befreit werden. Der Imperator kann es doch nicht zulassen, dass so etwas geschieht!«
»Ja«, bestätigte Lion. »Er wird es herausfinden… Ich werde ins Krankenhaus gesteckt und ein ganzes Jahr untersucht…«
»Niemand wird dir das antun!«
Lion zuckte mit den Schultern. »Weißt du, ich werde nichts dagegen einwenden. Wenn das unumgänglich ist, damit alle gerettet werden — bitte.« Lion rührte schweigend mit dem Löffel im kalt gewordenen Tee. »Tikkirej, weißt du, wie schlimm das ist… ein ganzes Leben zu leben.«
»Hast du wirklich gedacht, dass das alles in Wirklichkeit geschah?«
»Ja.«
Er sah mich an und seine Augen waren ganz verändert. Müde. Wie bei einem alten Mann.
»Ich war im Krieg, Tikkirej«, erklärte Lion, »und ich hatte einen Freund…«, er zögerte, »einen wie dich. Nur dass er getötet wurde, als wir in einen Hinterhalt kamen. Aber ich habe ihn gerächt. In meiner Hand, genau hier«, er berührte mit einer sehr eindeutigen Geste sein Handgelenk, »war ein kleiner Strahler im Armband. Ich hob die Hände, als ob ich mich ergeben wollte. Aber dann schaltete ich den Strahl ein und tötete alle. Und wir zogen wieder in den Kampf…«
Für einen Moment zitterten seine Lippen.
»Hast du eine Ahnung, wie viele Menschen ich getötet habe?«, rief er plötzlich leise. »Siebzig!«
Die Tatsache, dass er nicht hundert und nicht tausend sagte, sondern gerade siebzig, erschütterte mich. Sogar meine Hände begannen zu zittern, und ich stellte die Tasse hin, um keinen Tee zu verschütten.
»Und dann hatte ich eine Freundin«, berichtete Lion weiter, »aus der fünften Rotte… Wir heirateten während des Krieges. Ich kann jetzt sogar Kinder erziehen! Ich kann alles wie ein Erwachsener, absolut alles! Feuer löschen, Ertrinkende retten, einen Flyer fliegen! Ich habe bereits ein ganzes Leben gelebt und bin gestorben! Mir… mir ist langweilig, Tikkirej! Und ich habe vor nichts mehr Angst, vor gar nichts!«
»Das wird vergehen«, flüsterte ich.
»Was wird vergehen? Ich erinnere mich an alles, als ob es gestern wäre! Hast du eine Ahnung, wie der Himmel brennt, Tikkirej? Wenn eine Kette von Jagdbombern aus dem Orbit ihre Attacke beginnt und die Fliegerabwehr ein Plasmaschild über ihrer Position errichtet? Du weißt das nicht… Ein Sturm zieht auf, Tikkirej. Der Himmel ist orange, der Sturm heult und bläst direkt nach oben, sodass du dich am Boden festkrallen musst. Und die Luft wird immer trockener. Bei mir gingen die Kapseln im Atemgerät zu Ende und ich verbrannte mir damals den Rachen. Dafür gelang es den Angreifern nicht, sich zurückzuziehen, sie kamen an den Schild und lösten sich auf…
Wie weiße Kometen im orange gefärbten Himmel… Danach kamen wir in ein Dorf, aber die Infanterie des Imperiums hatte es schon verlassen und alle Dorfbewohner getötet, weil sie uns unterstützt hatten… Die Männer waren erschossen worden… Frauen und Kinder in die Moschee getrieben, eingeschlossen und angezündet… Sie schrien noch, als wir einzogen, aber wir konnten das Feuer nicht mehr löschen…«
»We-welche I-infanterie des Imperiums…«, stotterte ich. Lions Stimme war fürchterlich. Er dachte sich nichts aus, erzählte kein Buch oder keinen Film nach. Er erinnerte sich!