»Ich verstehe. Aber es ist trotzdem nicht in Ordnung, dass zwei Kinder ohne Erwachsene leben. Deine Persönlichkeit bildet sich gerade aus und das könnte sich negativ auf sie auswirken. Deshalb möchte ich den Vorschlag machen, dass du und Lion zu uns zieht.«
Das hatte ich nicht erwartet. Ich hob den Kopf und schaute William an. Er wirkte sehr ernst.
»Es ist klar, dass es dabei nicht um eine Adoption geht, ihr seid schon große Kinder«, fuhr William fort. »Aber wir wären bereit, eine offizielle Vormundschaft einzurichten und euch dabei zu unterstützen, eine Ausbildung zu bekommen und einen würdigen Platz in der Gesellschaft einzunehmen. Für kindliche Vergnügungen wird noch genug Zeit bleiben, stimmt’s?«
Er lächelte.
»Warum machen Sie das alles?«, fragte ich.
»Ich will ehrlich sein«, meinte William. Er stieß eine Rauchwolke aus und warf seinen Zigarillo weg: »Erstens aus einem Gefühl von Schuld. Ich fühle mich zur Wiedergutmachung verpflichtet… teilweise auch meiner eigenen Schuld. Zweitens wäre das eine gute und nützliche Tat. Und auf welcher Grundlage ist unsere Welt errichtet, wenn nicht auf Güte und gegenseitiger Unterstützung? Drittens, und das ist vielleicht das Wichtigste, euer Beispiel wird Rosi und Rossi helfen, wertvolle und gute Menschen zu werden. Ich habe mit den Kindern gesprochen und mit ihrer Mutter. Sie würden sich alle freuen. Na… was sagst du dazu?«
Er wartete. Er roch nach Tabak und einem teuren, würzigen Eau de Cologne.
»Die Vorteile für dich und Lion, die ich schon kurz aufgezählt habe, muss ich nicht erläutern, nicht wahr?«
Mein Vater hat nie geraucht. Das war teuer, man benötigte eine spezielle Genehmigung… hätte eine spezielle Genehmigung benötigt…
»Danke«, fing ich zu sprechen an, »aber…«
»Mir ist klar, Tikkirej, dass du mein Verhalten mit einiger Ironie betrachtest«, sagte William. »Meine Art und Weise, mich zu benehmen und Gedanken zu äußern… Ist es nicht so? Aber glaube mir, das ist lediglich eine Folge meiner spezifischen Arbeit. Wir sind durchaus nicht solche leichtsinnigen Gesellen, wie du vielleicht denkst.«
»Ich glaube nicht, dass Sie leichtsinnig sind«, erwiderte ich schnell. »Nein… Na ja, manchmal vielleicht etwas komisch…«
Ich kam durcheinander und verstummte.
Jetzt wartete William geduldig.
»Verstehen Sie… Nein, so wird es nichts.« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, vielen Dank, natürlich. Aber wissen Sie, Sie haben mir erklärt, warum Sie uns bei sich aufnehmen wollen.«
»Und hat dich etwas daran gestört?«, fragte William erstaunt.
»Nein, Sie haben alles klar und deutlich begründet, aber eigentlich hätten Sie gar nicht auf meine Frage antworten sollen.«
»Erklär mir das bitte, Tikkirej«, bat William und zog die Stirn in Falten.
»Also, wenn Menschen einander helfen wollen oder wenn sie befreundet sind, dann versteht sich das von selbst. Nicht, weil man etwas wiedergutmachen oder gute Taten vollbringen will. Erklärungen sind da nicht notwendig. Das ist wie mit dem Verhältnis zwischen Moral und Gesetz, verstehen Sie? Gesetze werden geschaffen, um die Menschen zu zwingen, etwas zu tun oder etwas zu unterlassen. Selbst wenn die Gesetze gut sind, beweisen sie, dass die Menschen von sich aus nicht nach ihnen leben wollten. Und Sie suchen eine Begründung dafür, dass Sie uns zu sich in die Familie nehmen wollen, und argumentieren, dass dadurch Rosi und Rossi Güte und Tapferkeit kennen lernen würden.«
William ließ sich mit seiner Antwort Zeit. Dann fragte er: »Hast du dir das allein ausgedacht?«
»Nein«, gab ich zu. »Das… Einer meiner Freunde ist der Meinung, dass Gesetze lediglich Krücken für die Moral wären. Und dass wir damit aufgehört hätten, mit dem Herzen zu denken. Jetzt würden wir nur noch rational, mit dem Kopf denken. Dabei würden wir ständig versuchen, uns damit zu rechtfertigen, dass ein Herz nicht denken, sondern lediglich fühlen könne. Das stimmt aber nicht, das Herz denkt auch, aber anders.«
»Viele sind der Meinung, dass ein Herz nur geschaffen wäre, um Blut umzuwälzen«, murmelte William. Er schien in sich zusammengesunken zu sein, alles Aufgesetzte war verflogen.
»Sicher hat dein Freund Recht, Tikkirej… Er hat Recht. Ist dir bekannt, dass wir die ganze Zeit über versuchen, alte Schauspiele umzudeuten? Eine moderne Lesart von ›Romeo und Julia‹ … eine neue Deutung des ›Othello‹. Da muss dann alles stimmig sein. Jede einzelne Handlung. Sowohl der Selbstmord Romeos als auch die Eifersucht Othellos…«
Er griff nach dem Zigarrenetui, steckte es aber sofort wieder weg und fragte: »Tikkirej, kannst du dir nicht vorstellen, dass ich einfach nach einer Rechtfertigung gesucht habe? Für meinen Wunsch, dir und Lion zu helfen?«
Ich schüttelte den Kopf:
»Nein. Entschuldigen Sie, aber das glaube ich nicht.«
William saß da und starrte vor sich hin.
»Sie werden ganz bestimmt Erfolg haben«, meinte ich. »Sie haben heute wunderbar mit Rossi gespielt.«
Er hob die Schultern und murmelte: »Ja. Zuerst habe ich mir überlegt, was und wie ich es machen soll, und danach habe ich mit meinen Sohn herumgetobt… Bestimmt ist mein Herz nur eine Pumpe…«
»Machen Sie sich keine Gedanken. Es ist außerdem so, dass wir Avalon verlassen werden…«, ergänzte ich.
William nickte.
Warum war ich nur so unsensibel? Ich hatte alles versaut!
»Entschuldigen Sie«, sagte ich. »Gestatten Sie, dass ich gehe?«
»Natürlich, Tikkirej.«
»Falls… Wenn ich zurückkomme, schaue ich bei Ihnen vorbei, einverstanden?«
William nickte. Als ich den Garten verließ, bombardierte Lion die Gartenpforte vor Langeweile mit Schneebällen. Das gelang ihm sehr gut, sie war weiß vor Schnee.
»Habt ihr euch ausgesprochen?«, fragte er.
»Ja.«
»Und…?«
»Nichts«, erwiderte ich. »Hör mal, warum läuft immer alles schief?«
»Wenn alles glatt läuft, bemerken wir es nicht«, philosophierte Lion. Und wir gingen nach Hause.
Kapitel 5
Agrabad lag still und friedlich im Licht der aufgehenden Sonne.
Am Himmel zeichneten sich Flyer ab und die weißblauen Mosaiksteine der Türme glänzten. Ich lag auf dem Bauch, stützte mich auf meine Ellenbogen und schaute mir die Hauptstadt von Neu-Kuweit durch ein elektronisches Fernglas an.
Ich konnte sogar die Menschen und Autos auf den Straßen erkennen.
»Alles ist ruhig, Lion«, teilte ich mit. Ich drehte meine Baseballkappe mit dem Schild nach hinten, um mir nicht den Nacken zu verbrennen. »Gehen wir?«
Lion hockte neben mir und kaute an einem Grashalm. Er zuckte mit den Schultern und meinte:
»Na los, versuchen wir es.«
Ich stand auf, säuberte die mit Erde verschmierten Ärmel meines Hemds und wir stiegen zur Straße hinunter. Ein sanfter Abhang führte vom Wald, in dem uns gestern ein Raumschiff der Phagen abgesetzt hatte, zu einer der Hauptstraßen, die vom Kosmodrom kamen. Jetzt war sie wie leer gefegt — auf Neu- Kuweit landeten fast keine Raumschiffe. Blockade…
»Meine Eltern wollten in die Hauptstadt ziehen«, sagte Lion. »Wenn sie das geschafft haben, werden wir sie suchen.«
»Unbedingt!«, versprach ich.
Rund zehn Minuten lang schritten wir auf der Straße entlang. Zwei Jugendliche, nichts Ungewöhnliches. Ordentlich angezogen, sogar etwas gekämmt. Was soll’s, dass sie zu Fuß unterwegs waren?
Das erste Auto Richtung Stadt verringerte seine Geschwindigkeit, hielt aber nicht an. Schweigend und teilnahmslos musterten uns zwei Männer auf dem Rücksitz, der Fahrer schaute nur auf die Fahrbahn. Dann beschleunigte das Auto und entfernte sich.
»Treffen wir eine Entscheidung!«, schlug Lion vor. »Irgendetwas gefällt mir nicht.«
»Mir auch nicht«, stimmte ich zu.
Seit wir uns auf Neu-Kuweit befanden, waren wir immer und in allen Sachen einig. So, als ob wir Angst hätten, uns zu streiten — sogar wegen der kleinsten Kleinigkeit.