Lion war in das Foto versunken und lächelte verzückt, fast wie die Menschen um die Präsidentin Inna Snow herum.
Ich zerknüllte das Blatt und gab es Semetzki zurück. Lion erbebte und das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht.
»So sieht es also auf dem Planeten aus«, meinte der Unternehmer. »Warum lasst ihr euch so viel Zeit?«
»Wir treffen keine Entscheidungen«, antwortete ich. »Wir haben unsere eigene Aufgabe…«
»Ich verstehe.« Semetzki holte Luft. »Jedem Töpfchen sein Deckelchen… In Ordnung, Jungs. Ihr habt uns Mut gemacht, das könnt ihr glauben. Allein durch die Tatsache, dass ihr hier seid… Erholt euch, macht es euch gemütlich. Und morgen früh bringen wir euch in die Hauptstadt.«
»Opa, ich fahre den Jetski«, sagte Natascha bestimmt.
Semetzki atmete tief ein.
Diskutierte jedoch nicht. Abends saßen wir am Lagerfeuer. Alle außer Semetzki: Er schaute in seiner Hütte Fernsehen.
Entweder suchte er wirklich irgendeine Information im Propagandastrom des Inej oder er wollte die Mädchen nicht stören.
Die mutigen Kämpfer der Sonderbrigade des Imperiums Die Schrecklichen lauschten unseren Erzählungen über den Avalon. Sie kamen ja alle von dort. Einige Mädchen hatten schon feuchte Augen, aber noch heulte niemand.
»Es ist neuer Weihnachtsschmuck auf dem Markt«, berichtete Lion und wedelte mit den Händen. »Polimorph, er ändert nicht nur die Farbe, sondern auch die Form. Der Weihnachtsbaum ist mal mit Kugeln, mal mit Glocken und mal mit Leuchten geschmückt. Und zu Silvester gab es die ganze Nacht lang über Camelot eine Lasershow…«
Unfassbar! Lion war zu Silvester noch gar nicht normal. Trotzdem erinnerte er sich an alles. Zuerst saßen wir zu zweit, dann kam Stasj, danach Rosi und Rossi… wir fuhren nach Camelot…
Ich dachte an meine avalonischen Freunde und wurde traurig. Die dichte Matte aus Zweigen, die an Stricken über dem Lagerfeuer hing, warf das Licht auf die Gesichter der Mädchen zurück. Rötliche Schatten zuckten, der Qualm umtanzte die Matte und ging als Ring zum Himmel.
Eine kleine Partisanin, die begeistert auf Lion schaute, sank in sich zusammen und legte ihren Kopf auf die Knie der Freundin, um zu träumen.
Leise stand ich auf und entfernte mich vom Lagerfeuer. Ich schaute in die Hütte Semetzkis, aber der Alte hatte den Fernsehbildschirm vor die Augen geklappt und schaute konzentriert, wobei er ab und zu schmatzende Geräusche von sich gab.
Ich lief durchs Gebüsch und achtete darauf, nicht den Baumkronenschutz zu verlassen. Am Waldrand hielt ich inne. In der Ferne sah man dunkel die Charitonow-Kette, auf dem höchsten Berg blinkte ab und zu ein rotes Licht.
»Dort sind eine meteorologische Station und der Ersatzfernsehturm von Agrabad«, sagte jemand neben mir.
Ich zuckte zusammen und drehte mich um. Mit Mühe und Not erkannte ich in der Dunkelheit Natascha. Sie saß da, hatte ihre Knie zum Kinn gezogen und beobachtete die Berge.
»Was machst du denn hier?« Vor Schreck wurde ich grob.
Aber Natascha antwortete friedlich: »Ich schaue auf die Berge. Das sind schöne Berge. Aber sie sind tückisch. Kalt und steil.«
Ich setzte mich neben sie und fragte: »Hast du keine Angst zu kämpfen?«
»Ich habe Angst«, antwortete Natascha ehrlich. »Fast alle haben Angst. Diana nicht, sie ist irgendwie gefühllos. Kira und Myrta behaupten ebenfalls, dass sie vor nichts Angst hätten. Aber ich glaube, dass sie lügen.«
»Du hast einen tapferen Großvater«, meinte ich.
»Ja. Und einen klugen. Er hat sich ausführlich mit uns unterhalten, bevor wir uns dazu entschieden, Partisanen zu werden. Über Inej… und überhaupt.«
»Und hat euch überzeugt.«
»Er hat uns überzeugt. Er erklärte uns, dass die größte Freiheit schon immer innerhalb des Menschen lag. In der Seele. Sogar die schlimmsten Tyrannen konnten die Menschen nicht daran hindern, auf eigene Art und Weise zu denken. Aber Inej versucht genau das, und deshalb ist es egal, ob wir getötet oder in Zombies verwandelt werden. Wir würden nicht mehr wir selbst sein können.«
»Ja«, erwiderte ich. Obwohl ich dachte: Wenn ein Mensch sein Leben im Gefängnis verbringen muss, ist das sicherlich viel schlimmer. Die Zombies verstehen wenigstens nicht mehr, dass ihnen die Freiheit genommen wurde.
»Ist es schwer, ein Phag zu sein?«, fragte Natascha plötzlich.
»Was? Na ja… Je nachdem.«
»Stimmt es, dass ihr vor nichts Angst habt?«
Ich wollte bekennen, dass ich überhaupt kein Phag war, aber das war unmöglich.
»Auch Phagen haben Angst«, sagte ich deshalb. »Besonders um andere.«
Natascha nickte kaum merklich in der Dunkelheit.
»Tikkirej…«
»Was?«
»Weißt du, ich glaube, dass wir alle sterben werden«, sagte sie. »Wir können uns doch nicht die ganze Zeit verstecken… Man braucht nur eine Rakete auf uns zu richten — und das war’s.«
»Ihr versteckt euch doch.«
»Sie werden uns trotzdem finden. Wir treffen natürlich alle möglichen Vorsichtsmaßnahmen… Wir machen jetzt nur ein Lagerfeuer, weil wir auf dem Gipfel des Hügels sind. Das sind nämlich Hügel mit Geysiren, hier gibt es viele heiße Quellen. Aber früher oder später wird man uns finden. Falls das Imperium nicht eingreift.«
Ich schwieg.
Ich konnte nichts dazu sagen, ich wusste nicht, wann es Krieg mit Inej geben würde.
»Tikkirej… küss mich!«, bat Natascha plötzlich.
Mir blieb die Luft weg.
»Ich habe noch nie geküsst«, eröffnete mir Natascha. »Weißt du, es wäre doch schade, wenn wir getötet werden, und ich hätte noch niemanden geküsst. Wirst du mich küssen?«
»Äh…«
»Gefalle ich dir nicht?«
»Du gefällst mir«, beruhigte ich sie, obwohl an Natascha nichts Besonderes war.
»Dann küss mich! Nur ein einziges Mal!« Und Natascha wandte sich mir zu.
Den Phagen wird vielleicht beigebracht, wie man küsst, aber ich war ahnungslos, denn ich hatte ja bisher auch noch niemanden so richtig geküsst! Ich empfand das Bedürfnis, aufzuspringen und wegzulaufen, schämte mich aber, als feige zu erscheinen. Dann bemerkte ich, dass Natascha die Augen geschlossen hatte und wurde etwas mutiger.
Letztendlich zwingt mich ja niemand dazu, sie zu heiraten!, dachte ich beherzt.
Vorsichtig berührte ich mit meinen Lippen ihren Mund. Es war gar nichts Außergewöhnliches… Nur mein Herz begann schneller zu schlagen.
»War das schon alles?«, flüsterte Natascha.
»Ja…«
»Danke«, sagte Natascha unsicher.
Und da schien mich etwas anzustoßen. Ich wandte mich zu ihr und küsste sie erneut. Eigentlich genau so, aber es war wie ein Stromschlag. Natascha fühlte sicherlich ebenso und schrie leise auf.
Ich sprang auf und lief zum Lagerfeuer. Einige Schritte vom Lichtkreis entfernt blieb ich stehen: Im Prinzip saßen alle noch genau so da und hörten den Erzählungen Lions zu. Hinter meinem Rücken raschelten Zweige — auch Natascha war geflohen, aber nicht ans Lagerfeuer, sondern in die Hütte zum Opa. Mit klopfendem Herzen setzte ich mich wieder ans Feuer. Niemand beachtete mich. Es gab ja genug Gründe, für kurze Zeit das Lagerfeuer zu verlassen.