Der Jetski näherte sich gemächlich dem Ufer. Natascha fuhr ihn mit der Spitze auf eine Sandbank und erhob sich von meinen Knien. Wir schauten uns unsicher an.

»Komm… gib mir deine Hand«, sagte ich.

Ihre Handfläche war eiskalt. Sie wird sich ganz bestimmt erkälten.

»Übermittle deinem Großvater unseren Dank!«, schrie Lion und sprang ans Ufer. »Er ist großartig! Tikkirej, bummle nicht herum!«

»Tschüss«, sagte ich zu Natascha. »Lass dich nicht erwischen!«

»Ich passe auf«, versprach sie.

Ich sprang hinter Lion her, erreichte jedoch nicht das Ufer und machte mir die Füße nass. Lion lachte schadenfroh. Natascha zündete die Ersatztriebwerke und der Jetski kroch langsam von der Sandbank. Eine Sekunde lang schaute sie zu uns, beugte sich vor, dann legte sie sich in die Kurve und der Jetski flog wie der Blitz zur Mitte des Flusses.

»Schnittig!«, begeisterte sich Lion. »Und du hast dich in sie verliebt, stimmt’s?«

Ich hätte es ihm beinahe übel genommen, überlegte es mir jedoch anders und sagte nur: »Idiot. Sie hat immerhin ihr Leben riskiert, um uns hierherzubringen. Weil sie glaubt, dass wir Phagen sind.«

»In gewissem Sinne sind wir das ja auch«, sagte Lion nachdenklich. »Wenn auch keine ganz echten, aber trotzdem… Okay, sei nicht eingeschnappt!«

Ich war aber gar nicht beleidigt. Ich überlegte eher, ob wir nicht dafür beten sollten, dass Natascha nichts passierte. Dann erinnerte ich mich daran, wie ich gebetet hatte, dass meine Eltern nicht gehen mussten.

Und ich verwarf diese Idee. Im Fahrerhaus des Lasters duftete es nach frischem Brot. Als Fracht transportierte der Laster Bretterstapel, aber das Brot lag beim Fahrer in der Kabine auf einem langen, bankähnlichen Sitz. Zwei große Laibe mit fester, brauner Kruste und weichem Inneren…

»Greift zu, Jungs, greift zu!«, forderte uns der Fahrer gutmütig auf. »Versteht man es etwa in der Stadt, Brot zu backen? Vor hundert Jahren trat ein Programm zur Sicherstellung der Versorgung in Kraft und das Volk ist satt, aber Brot braucht eine Seele!«

Wir hatten keine Schwierigkeiten gehabt, ein Auto anzuhalten. Der erste LKW — fast so groß wie ein Raumschiff der Phagen, hielt neben uns, als wir am Straßenrand standen und trampten. Ein schwarzhaariger, dunkelhäutiger Fahrer schaute lächelnd heraus und winkte uns zu. »Steigt ein!«

»Onkel Dima, kann man etwa kein Brot in der Mikrowelle zu Hause backen?«, wollte Lion wissen. Es gelang ihm gut, den Dialekt des Fahrers zu imitieren.

»Na hör mal, mein Junge!« Der Fahrer lachte. »Brot gelingt nur im Backofen. Es muss mit den Händen geknetet, der Ofen muss mit Holz geheizt werden! Und du kommst mir mit Mikrowelle, Ultraschall, Elektronen, Positronen… Hier ist Milch, kostet die Milch!«

Lion nahm bereitwillig eine verdächtig aussehende Plastikflasche für Limonade entgegen. In der Flasche war Milch.

»Vorsichtig!«, meinte der Fahrer vergnügt. »Das ist frische Milch. Aus dem Kühlbehälter. Wenn ich synthetische trinke, selbst wenn es die teuerste und qualitativ beste ist, tut mir der Magen weh. Das überstehe ich nicht.«

Er fing wieder an zu lachen.

Ich nahm einen Schluck Milch, nachdem ich sicherheitshalber mit meinem Ärmel den Flaschenhals abgerieben hatte. Nicht etwa, weil ich mich vor Lion ekelte, sondern weil die Flasche an sich einen schmuddeligen Eindruck machte.

Die Milch schmeckte himmlisch! Erstaunlich gut, dickflüssig und irgendwie… irgendwie wie etwas längst Verschollenes, aber im Traum Präsentes.

»Na also!«, rief der Fahrer aus. »Habt ihr den Unterschied geschmeckt? Die ist nicht aus Erdöl und Sägespänen, die ist von der Kuh.«

Ich schluckte erschrocken, aber erstaunlicherweise ekelte ich mich nicht. Es klappte sowieso alles gut. Wir hatten uns umsonst verrückt gemacht, die Menschen auf Neu-Kuweit waren völlig normal, kein bisschen schlechter als die auf dem Avalon. Oder gehörte der Fahrer vielleicht nicht zu den Zombies? Ich schaute aus den Augenwinkeln auf seine Stirn — sein Neuroshunt war moderner als meiner, ein ›Jamamoto- Profi‹ mit Funkaufsatz. Dann ist es unwahrscheinlich.

»In der Stadt setze ich euch schon am Stadtrand ab«, sagte der Fahrer entschuldigend. »Ich darf mit diesem Nilpferd von einem Auto nicht auf die Hauptstraßen, nur in die Fabrik und in die Garage.«

»Wir steigen noch vor der Stadt aus«, erwiderte Lion, »neben dem Motel, in der Nähe des Kosmodroms. Dort ist Papa… arbeitet mein Papa. Und die Milch hat hervorragend geschmeckt. Danke!«

Der Fahrer nickte und sagte unerwartet nachdrücklich: »Danke musst du nicht mir sagen, mein Junge!«

»Danke der Herrscherin!«, antwortete Lion sofort mit einer veränderten Stimme. »Aber Dank auch an Sie, Onkelchen.«

»Oje, sie haben das Imperium ganz nach unten gewirtschaftet«, seufzte der Fahrer. »Wir essen Synthetik, haben unseren Stolz verloren, wissen nichts mehr von der Liebe. Wenn es Inej nicht geben würde…«

Er veränderte sich kein bisschen bei diesen Worten. Er blieb derselbe gutmütige und noble Mensch, der gern fremde Jungs mitnahm und sie sogar noch mit seinem duftenden Brot und der guten Milch bewirtete. Aber in meinen Ohren schienen Alarmglocken zu läuten. Auch Lion sah konzentriert und unruhig aus.

»Was glauben Sie, Onkelchen, wird das Imperium gegen uns kämpfen?«, wollte Lion wissen.

Beim Fahrer traten die Backenmuskeln hervor.

»Es sieht ganz danach aus«, sagte er leicht dahin. »Macht ihr euch aber darüber keine Gedanken, Jungs. Ihr müsst lernen.«

»Wir lernen ja«, erwiderte Lion zustimmend. »Aber wir sorgen uns um die Herrscherin. Wenn es nötig ist, sind wir bereit zum Kampf!«

Der Fahrer hielt das Lenkrad mit einer Hand und streichelte Lion mit der anderen über den Kopf.

»Ach, ihr Jungs…«, sagte er mit trauriger Stimme. »Was denkt sich nur der Imperator? Warum lässt er uns nicht einfach in Ruhe leben? Habt ihr davon gehört? Von der Schießerei?«

»War das, als… eine Samum abgefeuert wurde?«, fragte ich frech, weil ich mich an den Bericht Semetzkis erinnerte.

Der Fahrer nickte: »Mit einer Samum… Das muss man sich mal vorstellen… Jedes Kind weiß das… Meine Tochter ist in diese Schule gegangen.«

Lions Augen sahen aus wie ein alter Neuroshunt — rund und groß. Ich erstarrte ebenfalls. Hatten etwa »Die Schrecklichen« so schlecht gezielt, dass sie eine Schule gesprengt hatten? Mit Kindern?

»Jetzt lernen sie zu Hause«, fuhr der Fahrer währenddessen fort. »Dank der Herrscherin, dass der Beschuss in der Nacht stattfand… Ist eure Schule nicht zerbombt worden?«

»Das ist sie«, erwiderte Lion überraschend.

Der Kraftfahrer nickte: »Zehn Schulen! Dass sie sich nicht schämen, diese Ungeheuer. Was wird es das nächste Mal sein? Ob sie vielleicht ein Krankenhaus in die Luft jagen oder das Vieh vergiften? Gestern kam eine Gesandtschaft an…«

Er verstummte.

»Ja und?«, wollte ich wissen. »Wir haben nichts davon gehört.«

Der Fahrer holte tief Luft: »Tja, was soll man dazu sagen… Während die Herrscherin mit dem Botschafter verhandelte, gingen seine Bodyguards in die Stadt. Und dort wurde einer gefasst, wie er Bakterien ins Trinkwasserreservoir schüttete!«

»Was?«, wunderte ich mich.

»Ein Anschlag wurde vorbereitet, mein Junge!« Das Gesicht der Fahrers war erneut angespannt. »Dieser Mörder, der Attentäter, war ein Phag und kein Bodyguard. Er wollte unsere Wasserleitungen mit Beulenpest infizieren. Damit die gesamte Hauptstadt entvölkert wird. Frauen, Kinder und Alte.«

»Ist er gefasst worden?«, fragte ich und vor meinen Augen erschien das Gesicht Tiens. Er sollte geplant haben, Millionen Menschen zu töten? Eine Woche lang sind wir mit ihm gemeinsam geflogen, er hat Scherze gemacht und sich gleichzeitig darauf vorbereitet, eine Million Menschen umzubringen?! Das kann doch nicht wahr sein!

»Ja«, antwortete der Fahrer. »Morgen Abend wird er hingerichtet, auf dem Platz, laut Urteil des Tribunals. Und die Gesandtschaft des Imperium wurde vom Planeten gejagt. Richtig so! Es war sowieso überflüssig, mit ihnen zu verhandeln. Sie sind alle Mörder, der Herrgott vergebe ihnen! Mörder!«


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