»Warum hast du denn so fest zugetreten, du Dummerjan?«, fragte ich.

»Ich bin kein Dummerjan«, empörte er sich. »Ich bin Sascha.«

»Tja, warum hast du denn so stark zugetreten, Sascha?«

»Das sind die Feinde, die Imperier«, erklärte er bereitwillig. »Du bist selbst ein Dummerjan. Das sind nämlich General Wolodja Ichin und Professor Edikjan von der Bastion, sie sind die schlimmsten Imperier.«

Ich erinnerte mich an den Trickfilm »Die Bastion des Imperiums« und dessen Helden: den mutigen Wolodja Ichin, der zwischen den Sternen auf einem Zauberpferd ritt, und den weisen Professor Gewa Edikjan, der auf einer Bastion lebte und die ganze Zeit über geniale Ideen hatte. Überall verteidigten sie das Imperium und besiegten alle Feinde. Das zeigt, dass auch dieser Trickfilm auf Inej produziert worden war. Er wirkte, als würde er das Imperium in den Himmel heben, in Wirklichkeit wurden alle kleinen Kinder gegen das Imperium aufgehetzt. Ich hatte mir diesen Trickfilm auch angesehen! Aber nur ganz selten, weil er für sehr kleine Kinder war. Wenn ich mehr geschaut hätte, hätte sich auch in meinem Kopf das Programm festgesetzt…

Vielleicht ist es auch in meinem Kopf und hat nur wegen des alten Neuroshunts nicht funktioniert? Und wenn es aktiviert würde — finge ich dann sofort an, das Imperium, den Avalon und Stasj zu hassen? Und auch die lustigen Strichmännchen aus dem Zeichentrickfilm?

»Warum sagst du nichts?«, wollte Sascha wissen.

»Ich denke nach«, erwiderte ich. »Könnte man die Feinde denn nicht gefangen nehmen?«

»Das geht nicht! Sie fliehen immer aus der Gefangenschaft«, erläuterte der Junge. »Spielst du mit mir?«

»Ich bin schon groß«, sagte ich. »Ich spiele nicht mehr mit Autos.«

Sascha diskutierte nicht. Für ihn war ich wirklich groß.

»Tikkirej!«, rief mich seine Mutter. »Komm rein!«

»Ich komme!«, meldete ich mich und erbebte. Sie hatte mich fast wie meine Mutter gerufen! »Sofort…«

Lion saß schon im Bademantel auf dem Sofa und seine Mutter näherte sich ihm gut gelaunt mit einer Haarschneidemaschine. Lion hatte bestimmt gewisse Vorahnungen, denn er forderte nachdrücklich: »Aber nicht wie das letzte Mal! Mama, nicht so kurz!«

»Schon gut!«, versprach seine Mutter beruhigend. »Nur dass dir die Haare den Mund nicht verdecken, sonst erstickst du noch daran.«

»Aber Mama!«, jammerte Lion. »Bis hier, nicht weiter!«

Missis Anabell zwinkerte mir zu wie eine Verschwörerin.

Lion war auch wirklich ziemlich zugewachsen.

»Tikkirej, geh dich waschen, danach schneide ich auch dir die Haare. Ich habe dir ein frisches Handtuch hingehängt, das große grüne, du wirst es finden. Außerdem habe ich saubere Kleidung für dich bereitgelegt, T-Shirt und Slips sind neu, Hose und Hemd von Lion, aber gewaschen und gebügelt. Wäschst du dir deine Haare selbst oder brauchst du Hilfe?«

»Mama!«, heulte Lion auf. »Tikkirej ist schon groß! Und ich auch!«

»Für eine Mutter seid ihr immer klein«, sagte Missis Anabell vorwurfsvoll. »Also, halt den Kopf still und mach die Augen zu.«

Die Maschine in ihrer Hand begann triumphierend zu summen.

Ich ging schnell ins Bad, damit sich Lion nicht noch einmal so aufregen musste. Ich drängte sein Schwesterchen, die am Waschbecken stand und ihre Hände unter einen Strahl kalten Wassers hielt, hinaus und schloss mich ein. Ich ließ Wasser in die Wanne und gab Schaumbad dazu.

Dann lehnte ich mich mit der Stirn an die gekachelte Wand und schloss die Augen. Das Wasser rauschte, hinter der Tür summte die Maschine. Lion beschwerte sich über die kurze Frisur, seine Schwester quengelte.

Und ich erinnerte mich daran, wie ich Lions Eltern kennen gelernt hatte. Sie wussten, dass ich eine Waise war. Und dass ich kein Geld hatte. Und überhaupt… dass ich hier völlig allein war. Aber sie stürzten sich nicht auf mich, um mich zu umarmen, zu küssen, zu baden, die Haare zu schneiden und mir Kleidung bereitzulegen.

Lions Mama hatte sich verändert. Sie war unwirklich. Vielleicht war sie jetzt sogar lieber und besorgter, aber sie hatte sich nicht von selbst geändert.

Sie war dazu gemacht worden.

Kapitel 4

Lion fiel anfangs gar nichts auf. Er freute sich einfach nur: über Mamas Pastete, dass sich seine Schwester nach ihm gesehnt hatte, dass alle Verwandten lebten und gesund waren. Er schaute mich schuldbewusst und gleichzeitig triumphierend an. — Na also, siehst du! Es ist gar nichts Schlimmes passiert.

Missis Anabell sprach erst gar nicht über das Imperium, und als Lion versuchte, das Gespräch auf den gefangenen Phagen, den Attentäter, zu bringen, winkte sie nur überdrüssig ab.

Abends kam dann Mister Edgar.

»Papa!« Schluchzend lief Lion zur Tür. Ich wollte mich abwenden, schaute jedoch zu. Im Hals spürte ich ein Kratzen und Stechen.

Mister Edgar sah aus wie ein echter Nachfahre der Bewohner von Raumstationen, egal, was er von Kosmonauten hielt. Er war groß, hager, mit langen, zupackenden Fingern, dunkelhäutig, hatte einen Kurzhaarschnitt und leicht hervorstehende Augen. Er war luftig angezogen mit kurzärmeligem Hemd und Shorts. Das ist allen Kosmonauten eigen. Bei niedriger Gravitation auf der Raumstation frieren die Menschen, die Haut wird schlecht durchblutet. Deshalb ist es den Kosmonauten auf den Planeten immer warm.

Als sich Lion seinem Vater an den Hals warf, befürchtete ich, dass Mister Edgar zusammenbrechen würde. Aber er blieb standhaft. Er wartete einige Sekunden, dann schob er Lion mit ausgestreckten Armen von sich und schaute ihn aufmerksam an. Er sagte: »Du bist gewachsen, mein Sohn.«

»Papa!«, wiederholte Lion automatisch.

Mister Edgar verwuschelte ihm die Haare.

»Wir haben uns große Sorgen gemacht. Guten Tag, Tikkirej. Wie seid ihr nur darauf gekommen, euch im Wald zu verstecken, mein Sohn?«

Lion erzählte noch einmal unsere Geschichte, sein Vater hörte ihm aufmerksam zu: Wie wir vom Motel mit Kapitän Stasj wegfuhren, der uns dann im Wald herausließ. Dass wir uns immer weiter von der Stadt entfernten, in die Berge gingen, »wie im Film über die außerplanetaren Invasoren«. Wie wir im leeren Haus eines Waldhüters schliefen, Fische fingen und sogar lernten, Kaninchen mit Schlingen zu fangen. Dass wir Angst hatten zurückzukehren, weil wir am Himmel viele Raumschiffe sahen und aus Richtung der Hauptstadt manchmal Explosionen zu hören waren. Wie wir uns trotzdem entschlossen zurückzukehren, auf einem Floß den Fluss herunterschwammen, eine Siedlung erreichten und uns dort davon überzeugten, dass es überall friedlich zuging und alles gut war. Und wie uns ein netter LKW-Fahrer mitnahm und mit Brot und Milch bewirtete.

»Erstaunliche Abenteuer!«, meinte Mister Edgar. Mir schien, als ob er Lion kein Wort glauben und uns gleich entlarven würde. Aber Mister Edgar fuhr fort, als ob nichts geschehen wäre: »Ich denke, du solltest aus dem Geschehenen lernen. Man darf sich nie blind vor etwas Unbekanntem fürchten. Man muss sich seiner Angst stellen und sie besiegen! Du hast einen ganzen Monat verloren, du warst keinen Tag in der Schule. Aber…«, er dachte kurz nach, »andererseits hast du bemerkenswerte Fortschritte beim Überleben im Wald gemacht und wichtige Lebenserfahrung gesammelt. Ich bin dir nicht böse!«

»Papa…«, murmelte Lion.

Ich erinnerte mich daran, wie er noch während des Flugs vom Avalon darüber grübelte, was die Eltern mit ihm wohl machen würden. Zuerst würden sie sich natürlich freuen und ihn dann gehörig durchwalken, obwohl der Vater ein Gegner von Schlägen war.

Es sah ganz so aus, als ob es Lion vorgezogen hätte, bestraft zu werden.

»Also dann, ihr jungen Leute!« Mister Edgar zog die Straßenschuhe aus und bequeme Hausschuhe an. »Setzt euch an den Tisch! Ich wasche mir die Hände und komme zu euch.«

»Ich habe deinen Lieblingsauflauf gemacht«, sagte Missis Anabell. »Und eine Eistorte gekauft, die Lion so gern isst. Sascha, Polina, geht Hände waschen und setzt euch an den Tisch!«


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