»Glückspilz«, äußerte Lions Vater trocken. Er war sauer wegen der Verspätung. »Ich hoffe, Tikkirej, dass du jetzt verantwortungsbewussterundernsthafterwirst. Einverstanden?«
»Einverstanden«, erwiderte ich. Und dachte: Soll er sich ruhig freuen.
Er hatte ja keine Schuld daran, dass sein Gehirn eingefroren war.
»Das Leben besteht nicht nur aus Freude und Abenteuern«, fuhr Mister Edgar fort. »Das muss man rechtzeitig erkennen. Jetzt vergehen die Tage für dich schnell, aber die Jahre ziehen sich. Du wirst erwachsen und alles kehrt sich um. Die Tage ziehen sich ewig und endlos, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang ist es eine ganze Ewigkeit. Und die Nacht ist wie eine doppelte Ewigkeit. Dafür fliegen die Jahre nur so an dir vorbei, von Geburtstag zu Geburtstag, von Silvester bis Silvester. Und die ganze Zeit über fehlt etwas, eine Minute, Stunde, ein Tag, ewige Zeitnot…«
Mir wurde unheimlich zumute.
Mir wurde wirklich unheimlich zumute.
Jetzt war Lions Vater ganz anders. Nicht wie vor dem Überfall des Inej und nicht wie ein Fremder, eine Person aus einer Fernsehserie. Als ob ihn etwas quälen würde, etwas aus ihm herausdrängen wollte, das aber nicht schaffte…
»Papa«, sagte Lion leise.
Mister Edgar schüttelte sich und wandte seinen Blick einen Augenblick lang von der Straße. Dann sagte er mit veränderter Stimme: »Deshalb, Tikkirej, sollte man sich zusammenreißen! Und dich, mein Junge, betrifft das genauso!«
Das war alles. Und er wurde wieder zum Gehirnamputierten.
»Papa, hast du manchmal ein Déjà-vu?«, fragte Lion. »Als ob alles schon einmal geschehen wäre? Als ob wir hier bereits früher gefahren wären, uns unterhalten hätten, als ob wir unser Leben schon gelebt hätten?«
»Natürlich«, erwiderte er besinnlich. »Das ist bei allen so. Das ist völlig normal, davor braucht man keine Angst zu haben. Du kannst mit dem Schulpsychologen darüber sprechen, er wird es dir erklären.«
Lion hörte auf zu fragen.
Bald darauf, nachdem wir ein paar Mal abgebogen waren, näherten wir uns einem langen niedrigen Gebäude, das von einem Park umgeben war. Das Gebäude war vollständig mit hellen, verschiedenfarbigen Klinkern verkleidet, über das Dach erhoben sich Türmchen und Kuppeln. Trotzdem strömte es wie jedes beliebige Schulhaus Langeweile aus.
Mister Edgar teilte diese Meinung übrigens nicht.
»Schön, nicht wahr?«, meinte er. »Wie in dem Märchen, das ich dir früher vorgelesen hatte. Erinnerst du dich, Lion?«
»Ja«, erwiderte Lion und ergänzte skeptisch: »Es ist aber überhaupt nicht ähnlich!«
Sein Vater parkte am Eingang, indem er sein Auto mit viel Mühe zwischen zwei Schulbussen abstellte. Wir stiegen aus und sahen uns um.
Nein, irgendwie hatte Lions Vater Recht. Ein schönes Gebäude. Meine Schule auf Karijer war wie alle Verwaltungsgebäudeeinganzgewöhnlicher Standardplattenbau. Auch die Schule auf Avalon war bescheidener. Außerdem gab es hier sehr viele Blumen, die in runden Gefäßen um die Springbrunnen herum wuchsen, und Fußgängerwege, die mit feinem Kies bestreut waren. Nicht wie gewöhnlich grau, sondern golden und beige. Lion nahm die Tasche mit seinen Sachen, ich hatte kein Gepäck. Ich hatte zwar gestern Kleider zum Wechseln bekommen, aber niemand hatte mir etwas zum Mitnehmen angeboten. Bei den Gehirnamputierten gibt es wahrscheinlich Aussetzer. Sie wissen, wie man sich richtig verhält, aber Kleinigkeiten werden schnell vergessen.
Am Eingang saß ein Wachmann in einem Glashäuschen, der uns weder ansprach noch anhielt. Wir gingen auf einer breiten Treppe in den zweiten Stock und kamen zu einer altertümlichen, nicht automatischen Flügeltür.
Lions Vater schaute nervös auf die Uhr, öffnete die Tür, schaute hinein und fragte unterwürfig: »Herr Sekretär?«
Ihm wurde geantwortet, er schob uns durch die Tür und trat nach uns ein.
Wir befanden uns in einem Empfangszimmer. Ein junger, pickliger Bursche, nicht älter als sechzehn Jahre, saß vor einem Display und schrieb. Uns warf er einen kurzen Blick zu und vertiefte sich wieder in den Bildschirm. Ich schaute genauer hin und bemerkte, dass er eine lustige Tastatur benutzte: eine holographische, die schwach in der Luft über dem Schreibtisch flimmerte. Aus unserem Blickwinkel war die Tastatur fast nicht zu erkennen. Es sah aus, als ob der junge Mann in der Luft mit den Fingern wackeln würde, gar nicht wie Arbeit.
»Tikkirej…«, flüsterte Mister Edgar entnervt und ich folgte ihm. Der junge Mann arbeitete weiter. Das war sicherlich ein älterer Schüler, der sich etwas dazuverdiente. Warum arbeitete er nicht über den Neuroshunt? Diese holographischen Tastaturen gibt es normalerweise an öffentlichen Stellen, um nicht onlinegehen zu müssen.
Die Tür zum Empfangszimmer des Direktors war ebenfalls aus Holz und machte Eindruck. Mister Edgar klopfte, wartete auf Antwort und wir gingen hinein.
»Frau Direktorin?«, fragte Lions Vater mit derselben unterwürfigen Stimme.
»Herein, herein!« Die Direktorin erhob sich hinter dem Schreibtisch. »Das ist sicher Ihr Sohn? Wie er seinem Vater ähnelt… Guten Tag, Lion!«
»Guten Tag!«, sagte Lion ziemlich bedrückt. Er machte sich sicherlich Gedanken wegen seines Vaters.
»Und du bist Tikkirej? Guten Tag, Tikkirej. Machen wir uns bekannt! Ich heiße Alla Neige.«
Die Direktorin war eine kleine, zierliche Frau mittleren Alters. Mit einem sympathischen, guten Gesicht und lächelnden Augen, sodass es die ganze Zeit schien, als ob sie gleich loslachen würde. Sie verstand es ausgezeichnet, gleichzeitig mit uns allen zu sprechen.
»Machen Sie sich keine Sorgen, ich habe den Jungs bereits ein Zimmer besorgt, im besten Gebäude.« — Das galt Edgar.
»Könntest du einen Vortrag halten über das Leben auf einer Raumstation? Niemand von unseren Zöglingen hat so lange im offenen All gelebt.« — Das betraf Lion.
»Ich habe erfahren, dass du bereits die richtige Staatsbürgerschaft von Neu-Kuweit besitzt. Wir bemühen uns, die Zöglinge mit Staatsbürgerschaft als Sprecher der Lerngruppen einzusetzen. Bist du damit einverstanden?« — Das war für mich.
Einige Minuten lang machten wir Smalltalk. Der traurige, picklige Sekretär kam mit einem Tablett voller Teegeschirr und Pralinen sowie einer Tasse Kaffee für Mister Edgar herein. Edgar schaute betrübt auf die Uhr, setzte sich aber trotzdem und trank den Kaffee. Bei dieser Gelegenheit bekamen wir einen riesigen Prospekt »Das College Pelach«. Es enthielt eine Masse großformatiger Farbfotos: wie man hier lernt, lebt und Sport treibt.
Außerdem wurde mitgeteilt, dass der Gründer des Colleges der große indische Pädagoge Sri Bharama war, der gegen Ende seines Lebens von Ganges-2 nach Neu-Kuweit umgesiedelt war. Deshalb war die Inneneinrichtung hier im nationalen indischen Kolorit gehalten (Indien ist ein uraltes Land auf der Erde). Die vier Teile des Colleges, jeweils für verschiedene Altersklassen, wurden nach bedeutenden indischen Städten benannt: Delhi, Kalkutta, Bombay und Peking.
Ich blätterte durch den Prospekt, als ob er mich interessieren würde, aber in Wirklichkeit beunruhigte mich ein Gedanke. Woher weiß die Direktorin von meiner Staatsbürgerschaft? Der Briefumschlag lag im Safe des Motels, von ihm wussten lediglich Edgar und Lion und Anna… Oh!
Ich hob den Kopf und schaute auf die Direktorin Neige.
»Hast du eine Frage, Tikkirej?«, fragte sie zärtlich. »Frag nur, hab keine Angst.«
»Entschuldigen Sie, es geht nicht um das College. Haben Sie zufällig eine Tochter, die in dem Motel arbeitet?«, fragte ich.
»Tikkirej«, stöhnte Edgar verzweifelt. »Was erlaubst du…«
»Das geht in Ordnung.« Die Direktorin Neige lächelte. »Tikkirej hat völlig Recht. Er meint Anna, nicht wahr?«
Ich nickte.
»Sie sind sich sehr ähnlich.«
»Du hast eine erstaunliche Beobachtungsgabe«, meinte die Direktorin. »Ja, so ist es. Sie war es auch, die Mister Edgar vorschlug, euch in meinem College unterzubringen. Es gilt als das beste auf dem Planeten. Du wirst mich nicht verraten, Tikkirej?«