Lion wurde unruhig.

»Und wenn es wirklich so ist? Vielleicht wartet sie nur auf einen Anlass, darauf, dass der Imperator als Erster angreift?«

»Warum?«

»Zum Beispiel, damit die Fremden sie nicht für den Aggressor halten. Ich erinnere mich aus meinem Traum, dass nicht nur wir gegen das Imperium kämpften, die Halflinge hatten uns unterstützt…«

Er unterbrach sich und schaute mich erschrocken an. Ich fasste Lion an die Schultern:

»Hast du das den Phagen gesagt?«

»Äh — ich erinnere mich nicht. Ich glaube…«

»Was ›glaubst‹ du?«

»Ich glaube, ich habe es gesagt…«

»Verdammt!« Etwas anderes fiel mir nicht ein. »Darum geht es also! Sie konspiriert mit den Fremden! Vielleicht wirklich mit den Halflingen, die sind kriegerisch wie alle Zwerge. Und wenn das Imperium Inej überfällt, treten die Halflinge auf Inejs Seite in den Krieg… Sie haben massenhaft Militärraumschiffe! Und dann beginnt ein solches Durcheinander!«

»Das müssen die Phagen erfahren«, meinte Lion.

»Und wie? Sollen wir einen Brief zum Avalon schicken?«, fragte ich aufgebracht.

»Warum keinen Brief, wenn er chiffriert ist…«

»Wenn uns jemand den Code verraten würde!?«

Wir standen da und schauten einander verzweifelt an.

Dann äußerte Lion: »Hör mal, warum, zum Teufel, haben sie unsüberhauptohnejeglicheKontaktmöglichkeit hierhergeschickt?«

»Stasj hat gesagt, dass sie uns finden würden.«

»Wann? Und wer? Wenn wir hier wirklich etwas Wichtiges in Erfahrung bringen können, warum haben wir dann keine Verbindung zu ihnen? Egal welche! Ein bestimmtes Zeichen, ein Brief, der geschrieben werden muss… was weiß ich!«

»Sie werden von sich aus Kontakt mit uns aufnehmen!«, wiederholte ich störrisch. »Auf jeden Fall!«

Lion bewegte zweifelnd den Kopf:

»Das ist trotzdem nicht in Ordnung. So etwas darf es einfach nicht geben, Tikkirej!«

Wir hätten noch bis in alle Ewigkeit darüber diskutieren können, ob man uns eine Kommunikationsmöglichkeit mit Avalon hätte einrichten sollen oder nicht. Es war so oder so ein sinnloser Streit. Ich war mir ziemlich sicher, dass uns am Abend Probleme erwarten würden. Zumindest Lion müsste bestraft werden!

Über die Schlägerei verlor jedoch niemand ein Wort und überhaupt versuchten alle, uns nicht zu nahe zu kommen. Im Speisesaal bekamen wir unser Abendbrot, obwohl es schon spät war und sich niemand mehr im Raum aufhielt. In unserem Zimmer fanden wir auf dem Tisch Briefumschläge mit dem Stundenplan für die nächste Woche, den Schulregeln und der Hausordnung des Colleges. Ich las sie mir durch — es gab nichts Unannehmbares in den Regeln. Nur Punkt Nummer sechs-»DieZöglingewerdengebeten,ihre Meinungsverschiedenheiten nicht in Form von Schlägereien auszutragen, bevor nicht alle Möglichkeiten der friedlichen Streitbeilegung ausgeschöpft sind« — war besonders hervorgehoben. Als ob man diese Zeile kräftig mit einem Fingernagel unterstrichen hätte.

Bei Lion fand sich dasselbe.

»Was es nicht alles gibt«, murmelte er. Er wirkte verlegen.

Im Schrank war Kleidung hinzugekommen. Wir hatten jetzt auch Unterwäsche, Schlafanzüge und Sportsachen. Lion freute sich offenkundig und betrachtete die neuen Sachen. Ich setzte mich aufs Bett, legte die Kleidung vor mir zurecht und versank in Gedanken.

Das alles hier ist doch keine billige synthetische Kleidung wie die, die an moralisch nicht gefestigte arbeitsscheue Leute ausgegeben wird. Es ist teure Kleidung aus Pflanzen, aus Baumwolle und Leinen. Und Leinen wächst ausschließlich auf der Erde. Das weiß jeder, überlegte ich.

Als mir meine Eltern echte Jeans aus Baumwolle geschenkt hatten — das war vielleicht ein Feiertag! Natürlich ist Neu- Kuweit viel reicher als Karijer, aber trotzdem… Aus welchem Grund wurden wir mit diesen Geschenken überschüttet?

In Gedanken versunken spürte ich nicht sofort, wie sich die Schlange am Körper bewegte. Sie hatte nach wie vor die Form eines Gürtels und kroch nicht aus den Schlaufen, steckte jedoch das Köpfchen nach vorn und schaute damit in alle Richtungen. Dann erstarrte sie, das Maul geöffnet, aber nicht für eine Plasmagarbe, sondern als ob es ein Miniteleskop als Antenne bilden würde.

Nach einer Sekunde glitt die Schlange über meinen Körper und kroch mir in den Ärmel. Ich blieb still — vielleicht gab es hier nur Abhörgeräte, aber keine Kameras. Ich wartete. Die Schlange kringelte sich um den Arm, kroch danach zur Schulter und berührte den Neuroshunt.

Vor meinen Augen erschien eine virtuelle Leinwand. Das ganze Zimmer war in Miniquadrate unterteilt. Und diese Quadrate füllten sich sehr schnell mit grüner Farbe… bis eines von ihnen, über dem Türrahmen, rot aufleuchtete. Dorthin tastete sich sofort ein dünner, pulsierender Strahl und das Quadrat leuchtete nun gelb. Die restlichen Quadrate färbten sich grün, weitere rote gab es nicht.

Ich war im Bilde.

»Lion, über dem Türrahmen ist eine Wanze.«

»Hä? Was?« Er hörte sofort auf, seinen Schlafanzug mit tanzenden Elefanten zu bewundern, und blickte erschrocken zur Tür. »Woher weißt du das?«

»Das Schlangenschwert«, erklärte ich und hob die Hand.

»Was machst du da?«, flüsterte Lion. »Bist du verrückt geworden?«

»Es ist alles in Ordnung, das Schlangenschwert hat die Wanze ausgeschalten«, beruhigte ich ihn. »Nein, nicht einfach ausgeschalten, sondern viel besser…«

»Na was?«

Die Schlange hatte natürlich nicht mit Worten zu mir gesprochen. Aber ich wusste trotzdem, was genau sie gemacht hatte. Und ich versuchte es, so gut ich konnte, zu erklären.

»Sie hat die Wanze umprogrammiert: Die sendet weiterhin Bild und Ton, aber als Aufzeichnung. Aus Teilen von vorhergegangenen Mitschnitten. Wenn man genau hinschaut, kann man Ungereimtheiten feststellen, aber man muss schon sehr genau hinschauen. Gleich schaltet die Schlange die Wanze wieder ein, und wir müssen uns benehmen, als ob nichts wäre. Und so viel wie möglich bewegen, allen möglichen Blödsinn quatschen… Damit wir für später, wenn die Wanze wieder abgeschaltet werden soll, daraus eine falsche Aufzeichnung zusammenschneiden können.«

»Alles klar«, sagte Lion betrübt. Er hatte sich schon darüber gefreut, dass wir endgültig von der Abhöranlage befreit waren.

»In der Nacht machen wir sie aus«, ermunterte ich ihn. »Dann können wir uns unterhalten. Also, setz dich dorthin, wo du gesessen hast!«

Lion seufzte und beugte sich über den Schlafanzug. Ich gab der Schlange den Befehl und begann ebenfalls meine Sachen anzuschauen.

In der Kleidung waren Gott sei Dank keine Wanzen versteckt. Ziemlich komisch! Vielleicht ging man davon aus, dass wir auf der Straße nicht beobachtet werden mussten, oder wir wurden sogar verfolgt. Und die zweite Variante wäre gefährlich für uns. Wir hatten bisher ohne jegliche Vorsichtsmaßnahmen miteinander gesprochen.

»Ich hatte schon einmal einen Schlafanzug mit Igeln«, sagte Lion. »Einen sehr schönen…«

»Und, ist er kaputtgegangen?«

»Nein, zu klein geworden. Jetzt hat ihn Sascha. Tikkirej, hast du Lust auf Schach?«

Ich wollte erwidern, dass ich nicht gerne Schach spiele, aber Lion fügte mit listiger Stimme hinzu:

»Wir spielen doch eigentlich jeden Tag Schach. Und heute haben wir noch kein einziges Mal gespielt.«

Das war wirklich eine gute Idee! Wenn unsere Überwacher das schlucken, dann kann man die ganze Zeit einen Mitschnitt über die Wanze laufen lassen. Dann sitzen dort zwei Jungs und spielen Schach, von morgens bis abends. Jeder hat nun mal seinen persönlichen Tick!

»Na los«, erklärte ich mich einverstanden. »Schließ deinen Pocket-PC an.«

Ich aktivierte meinen Pocket-PC, Lion seinen. Sie verbanden sich mit einem Strahl und wir luden das Spiel. In den Lehrprogrammen gibt es immer Schachprogramme. Wir begannen zu spielen. Zuerst war es recht langweilig, vielleicht, weil wir wussten, mit welchem Ziel wir uns ans Spiel gesetzt hatten. Dann fingen wir Feuer. Und wir spielten wirklich den ganzen Abend, bis zwölf Uhr, solange auf den Bildschirmen der Pocket-PCs noch nicht »Nachtruhe! Verstöße gegen die Tagesordnung schaden der Gesundheit!« aufleuchtete und dann ständig präsent war.


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