Der Klassenraum war für zwanzig Schüler groß. Die Wände waren mit Graffiti beschmiert, aber darauf achtete hier niemand. An der Decke leuchteten billige »Sonnenlampen«, die ganz wie die Erdsonne scheinen und deshalb die Stimmung aufhellen sollten. Aber wenn draußen dunkle Nacht war, machten diese Lampen nur noch depressiver. Besonders, wenn im Klassenraum niemand weiter war.
Lediglich am Nachbartisch saß Herbert vor seinem Computer, ein dicker und sommersprossiger Junge, ein oder zwei Jahre älter als ich.
Herbert gehörte zu den Hirnamputierten und war bestrebt, so gut wie nur möglich zu lernen. Aber durch diesen Eifer wurde es für ihn nur noch schlechter — er hätte mit den einfachsten Aufgaben beginnen müssen, versuchte jedoch das, was seinem Alter entsprach. Ich schaute kurz auf seinen Bildschirm und bemerkte, dass er durchaus nicht dumm war. Er war nur niemals richtig zur Schule gegangen. Sein Vater war ein Trapper, der seltene und teure Tiere in der Wildnis fing. Herbert hätte am besten bei seinem Vater bleiben sollen, wozu brauchte er denn Trigonometrie und Physik? Aber als Herbert nach der Invasion wieder aufwachte, strebte er selbst in die Schule. So versuchte er gerade, die Funktionsweise eines Kernreaktors zu verstehen, obwohl er eine Kernspaltung nicht von einer Kernfusion unterscheiden konnte.
Mein Bildschirm war mittlerweile mit Tetrisbausteinen zugepflastert und ich schaute wieder zu Herbert. Er baute jetzt ein neues Reaktormodell zusammen, gab Spannung auf den magnetischen Käfig und tippte auf »Start«. Der Reaktor auf demBildschirmexplodierte,etlicheMetallteile, Wissenschaftler mit herausquellenden Augen, Kabeltrommeln und Neutrinos flogen in alle Richtungen. Herbert seufzte tief und schaute traurig auf die Katastrophe.
»Soll ich dir helfen?«, konnte ich mich nicht zurückhalten.
Herbert nickte. Die Hirnamputierten bemühten sich in der Regel, einander zu helfen, und akzeptierten ihrerseits Hilfe.
»Du musst anders beginnen!« Ich setzte mich zu ihm und ließ den Kurs in Kernphysik zurücklaufen. Bei dieser Gelegenheit änderte ich unauffällig das Alter des Schülers auf acht bis zehn Jahre, damit es keine schwierigen Formeln, dafür aber umso mehr interessante historische Details gäbe.
»Hier. Fangen wir mit der Atombombe an?«
»Na los!«, stimmte Herbert zu.
»Das war vor langer Zeit, im Mittelalter«, begann ich, ohne auf den Bildschirm zu schauen. Ich hatte ein gutes, sehr interessantes Kinderbuch zur Geschichte der Atomphysik besessen. Diese Erzählung kannte ich auswendig: »Damals lebte die Menschheit nur auf dem Planeten Erde. Es gab verschiedene Länder, die einen gut, die anderen böse. Die bösen Länder — Russland, Deutschland und Japan — führten Krieg gegen die guten — die Vereinigten Staaten und Israel. Die Bösen bauten viele Militärflugzeuge und überfielen die Flotte der Guten — nicht die kosmische, natürlich, sondern die Seekriegsflotte. Und es begann ein langer Krieg.«
Auf dem Bildschirm begann ein Film. Leise und nachdrücklich sprach eine Stimme:
»Im Lande namens Vereinigte Staaten wohnte der Junge Albert oder einfach — Alka. Er war ein sehr intelligentes Kind und lernte gern, besonders interessierte er sich für Kernphysik.
Eines Tages kam ein schnelles Flugzeug in die Stadt, in der Alka lebte. Ein tapferer Pilot stieg aus und rief: ›Ein Unglück ist geschehen, wir wurden überrascht. Feinde kamen zu uns von den salzigen Meeren, aus kalten Ländern. Kugeln pfeifen, Granaten explodieren. Wir kämpfen Tag und Nacht gegen die Feinde. Wir sind viele, aber sie sind mehr. Bürger, jetzt ist keine Zeit zum Ruhen!‹
Daraufhin küsste der Vater Alka, setzte sich ins Flugzeug und zog in den Krieg.
Jeden Abend kletterte Alka aufs Dach und schaute: Kommt vielleicht das Flugzeug des Vaters zurück? Nein, nichts war zu sehen… So verging ein Tag, so verstrich ein Jahr. Und wiederum erschien am Horizont ein schnelles Flugzeug, die Tragflächen von Kugeln durchschlagen und die Verglasung des Cockpits gesprungen. Aus dem Flugzeug stieg ein Pilot, abgemagert und müde, mit verbundener Stirn, Händen voller Maschinenöl und rief: ›He, erhebt euch! Zuerst traf uns ein kleines Unglück, jetzt ist es ein großes! Der Feinde gibt es viele, wir aber sind wenige. Kugeln pfeifen, Granaten explodieren. Kommt zu Hilfe!‹ Da umarmte der ältere Bruder Alka zum Abschied, setzte sich ins Flugzeug und flog in den Krieg.
Jeden Abend kletterte Alka aufs Dach und hielt Ausschau: Kommen vielleicht Vater und Bruder zurück? Nein, nichts war zu sehen… Tagsüber lernte Alka besser als vorher und dachte stets: Mit welcher Waffe könnte man den Feind nur besiegen?
Da kam bei Sonnenuntergang wieder ein schnelles Flugzeug: eine Tragfläche war fast abgerissen, die Propeller verbogen, der Rumpf voller Löcher von Granateinschlägen. Aus dem Flugzeug kroch der Pilot und stürzte auf die Erde. Er kam zu sich und sagte: ›Erhebt euch, wer sich noch nicht erhoben hat! Wir haben niemanden mehr für den Kampf. Der Feinde sind viele, von den Unsrigen ist niemand übrig geblieben! Kommt zu Hilfe!‹
Ein alter Opa näherte sich dem Piloten. Er wollte ins Flugzeug steigen, aber seine Beine gaben nach. Er versuchte sich hinter den Steuerknüppel zu setzen, aber seine Hände konnten ihn nicht halten. Er wollte zum Zielgerät, aber seine Augen waren nicht mehr die besten. Da weinte der Alte vor Kummer.
Nun trat Alka nach vorn und sagte:
›Nein, der Feind kann nicht durch Masse besiegt werden, er muss durch Klugheit besiegt werden! Ich habe das wichtigste Kriegsgeheimnis entdeckt — wie es zu schaffen ist, dass alle Feinde auf einmal vernichtet werden!‹
Dann zeigte er dem Piloten ein Stück Papier. Auf diesem stand die Formel: E = mc2.
Daraufhin wurde fieberhaft gearbeitet und die Menschen stellten die zwei ersten Atombomben her. Der Pilot lud sie vorsichtig in sein Flugzeug und flog in den Krieg. Als er die zwei größten feindlichen Stützpunkte erblickte — Hiroshima und Nagasaki -, flog er weit nach oben und warf die Bomben auf sie.
Die Erde fing an zu brennen, der Rauch sammelte sich in einer Wolke. Alle feindlichen Flugzeuge fielen vom Himmel, alle ihr Schiffe gingen unter. Die Feinde erschraken und baten um Gnade.
Endlich kamen Alkas Vater und Bruder aus der Gefangenschaft zurück. Und sie lebten besser als zuvor!«
»Das war interessant«, meinte Herbert. »Aber mir wurde es anders gezeigt…«
»Glaubst du, dass es nicht stimmt?«, fragte ich.
»Nein, da wurde auch gesagt, dass Albert die Bombe entwickelt hat. Aber auf eine sehr langweilige Art.«
»Es ist überflüssig, sich etwas Langweiliges anzusehen«, erwiderte ich. Ehrlich gesagt war es mir sehr angenehm, dass ich einem Jungen, der älter war als ich, so gut helfen konnte. Auch wenn er hirnamputiert war…
»Komm, wir sehen uns an, wie die erste Bombe gemacht wurde…«
Ich half Herbert fast eine Stunde, sich in die Grundlagen der Kernphysik einzuarbeiten. Es tat mir überhaupt nicht leid um die aufgewendete Zeit. Herbert ist ja nicht schuld an seinen Problemen.
Die Atombombe war natürlich eine fürchterliche Waffe. AberdasmächtigsteKriegsgeheimnishatteder Wissenschaftler Albert nicht entdeckt. Noch viel schlimmer war jene Waffe, welche die Feinde nicht tötet, sondern sie einer Gehirnwäsche unterzieht und in Verbündete verwandelt. Welche sie dazu bringt, zu vergessen, was passiert und wie es auf der Welt wirklich zugeht, sie dazu zwingt, eine beliebige Lüge zu glauben. Auf eine derartige Waffe war früher niemand gekommen.
»Kommst du jetzt allein klar?«, wollte ich von Herbert wissen.
»Ja. Danke!«
Ich kehrte auf meinen Platz zurück. Sollte er ruhig lernen. Jetzt bekam er einfachere Erklärungen, mit denen er zurechtkommen würde. Ich startete ein neues Tetrisspiel und nahm mir vor, dieses Mal meinen persönlichen Rekord zu brechen. Es kam nicht dazu — die Tür öffnete sich und Natascha schaute in den Klassenraum.