Doch bald hatten die Jungen die Deutschen entdeckt. Allmählich versammelte sich die gesamte Schkid-belegschaft um die Matrosen. Jeonin spielte den Dolmetscher.
Er übersetzte die Fragen der Jungen und die Antworten der Deutschen.
Und die Jungen hatten zahlreiche und verschiedenartige Fragen. Weshalb ist die Revolution in Deutschland fehlgeschlagen? Gibt es in Deutschland auch Kinderheime? Und verwahrloste Jugendliche? Kann man in den deutschen Schulen Russisch lernen? Sind die Matrosen schon einmal in Afrika gewesen? Haben sie Krokodile gesehen? Weshalb rauchen sie Zigaretten ohne Pappmundstück? Warum jagen die Deutschen die Kapitalisten nicht zum Teufel?
Die Matrosen keuchten und schwitzten, beantworteten jedoch jede Frage.
Die Jungen waren so sehr in die Unterhaltung vertieft, daß sie gar nicht merkten, wie der Schulleiter mit seiner deutschen Frau hinzutrat.
„Oh, hier ist ja Besuch!“ sagte Vikniksor.
Elanljum strahlte über das ganze Gesicht. Sie fing sofort an, deutsch zu plappern.
Die Jungen verstanden davon kein einziges Wort, blieben jedoch sitzen und betrachteten die Ausländer vergnügt. Die älteren hielten es für ihre Pflicht, mit dem Neuen, der so außergewöhnliche Deutschkenntnisse an den Tag gelegt hatte, nähere Bekanntschaft zu schließen. „Wo hast du so gut Deutsch gelernt?“ fragte Zigeuner. Jeonin lächelte.
„Im Otschakow-Heim. Ich liebe die deutsche Sprache, darum hab' ich sie gelernt. Ich hab' sie mir allein beigebracht.“
„Was ist das für ein Heim?“
„Ein Internat. Früher, vor der Revolution, hieß es so. Es liegt beim Smolny. Von dort bin ich zu euch versetzt worden.“ „Wegen Aufsässigkeit?“ forschte Spatz ernsthaft. Der Neue grinste nur.
„Deswegen auch“, erwiderte er dann ausweichend. „Wegen allen möglichen Sachen.“
Allmählich kamen sie ins Gespräch. Der Neue erzählte von sich. Er sei als Vollwaise aufgewachsen, habe aber noch irgendwo einen Onkel, wisse jedoch nicht, wo. Sein Vater sei 1914 an der Front gefallen und die Mutter kurz darauf gestorben.
Schnell verflog die Zeit, und erst Vikniksors Ruf ließ die Jungen in die Gegenwart zurückkehren.
Warum jagen die Deutschen die Kapitalisten nicht zum Teufel?
Die Sonne ging bereits hinter dem Finnischen Meerbusen unter, als Vikniksor den Befehl gab, die Anker zu lichten. Sie gingen zusammen mit den Matrosen zurück.
Nachdem sie den Kanal überquert und das Hafengebiet betreten hatten, dankten die Deutschen den Jungen für das freundschaftliche Gespräch, baten sie, einen Augenblick zu warten, und verschwanden auf ihrem Schiff. Kurz darauf kamen sie mit einem Paket zurück und händigten es Elanljum mit ein paar Worten ein. Elanljum strahlte.
„Kinder, die deutschen Matrosen haben euch Kuchen geschenkt. Sie lassen euch bitten, sie nicht zu vergessen. Beide haben Kinder, die in eurem Alter sind.“
Die Schkider brachen in ein Freudengebrüll aus, schwenkten zum Abschied die Mützen und marschierten zum Tor.
Nur „Brotkanten“ war unzufrieden. Seiner Meinung nach hatten die Deutschen viel zuwenig gegeben.
Den ganzen Weg über murrte er leise vor sich hin und setzte Kossar, seinem Nebenmann, auseinander, daß die Deutschen Geizkragen seien.
„Das ist doch kein Geschenk! Das ist eine GemeinheitI Ich wünsche bloß, daß die Teufel denen genausowenig Wasser geben, wenn sie in der Hölle schmoren!“
„Wieso?“ erkundigte sich Kossar verdattert.
„Weil jeder bloß ein Stück bekommt, wenn der Kuchen geteilt wird“, murrte Brotkanten finster. Nach einiger Überlegung fügte er hinzu: „Vielleicht bleibt dabei aber noch eines für mich übrig.“
„Schluß mit der Stänkerei!“ fuhren ihm die Älteren über den Mund. Zigeuner beließ es nicht bei bloßen Worten, sondern langte ihm noch eine und brachte ihn dadurch endgültig zum Schweigen.
Brotkanten hatte diesen Spitznamen wegen seiner ungewöhnlichen Kopfform bekommen. Sein Schädel war plattgedrückt, lief oben spitz zu und sah tatsächlich wie ein Brotkanten aus.
Brotkanten war zwar noch neu in der Schkid, stand aber bereits im Ruf eines dauernden Miesmachers. Deshalb kümmerte sich für gewöhnlich niemand um sein „Gemecker“. Wurde es den Jungen schließlich zuviel, reagierten sie wie Zigeuner.
Die Schkider hatten die Matrosen ins Herz geschlossen, besonders Jankel, dem die Begegnung außer den erfreulichen Erinnerungen noch eine ausländische Zigarette mit schmalem Goldrand eingebracht hatte.
Auf dem Ausflug hatten die Jungen den Neuen achten gelernt. Durch die Begegnung mit den Deutschen war er in den Vordergrund gerückt, und der Umstand, daß die Älteren neben ihm gingen, bewies, daß er zur „Creme“ der Schkid gehören würde.
So kam es auch. Jeonin wurde in die vierte, obere Abteilung eingeschult. Er war gescheit, schon sehr entwickelt und gleichzeitig ein großer Radaubruder. Das gefiel den Älteren. Bald hatte er auch einen Spitznamen weg. Er wurde „Japs“ getauft wegen seiner leicht geschlitzten Augen und überhaupt wegen seiner verhältnismäßig großen Ähnlichkeit mit den Söhnen aus dem Land der aufgehenden Sonne. Sein Ansehen stieg weiter, als er der Schöpfer der Schkidhymne wurde. Das geschah so:
Als die Erzieher eines Abends ihre Zöglinge in die Schlafräume geschickt und sich die Klassen schon geleert hatten, saßen nur noch Jankel und Japs in der vierten Abteilung auf ihrer Bank. Jankel zeichnete, und Japs machte eine Abschrift aus einem deutschen Buch.
Da kam Vikniksor in die Klasse. Er schien guter Laune zu sein, denn er summte ein Kampflied vor sich hin.
Einträchtig schmetterten sie.
Er ging durch den Raum, betrachtete die Wände und die gesenkten Köpfe der Schüler und blieb dann vor ihrer Bank stehen. „Wißt ihr was, Kinder“, sagte er, „wir sollten uns eine eigene Schulhymne zulegen.“
Jankel und Japs sahen Vikniksor verwundert an, schwiegen aber diplomatisch.
„Unsere Schule“, fuhr dieser fort, „ist doch in ihrer Art eine Republik. Wir haben ein Wappen, deshalb müssen wir auch eine Nationalhymne haben. Was meint ihr dazu?“
„Na klar“, murmelte Jankel ausweichend. Er wechselte einen Blick mit Japs.
„Und was ist schon dabei?“ fragte Vikniksor lebhaft. „Wir setzen uns jetzt zu dritt dahinter und dichten eine. Ich hab' schon einen Einfall. Wir nehmen die Melodie des Studentenliedes 'Gaudeamus'. Das wird prächtig.“
„Dann man los“, willigten die Hymnendichter lustlos ein. Hingerissen von seinem Einfall, setzte sich Vikniksor neben sie auf die Bank und sang ihnen zur Erläuterung des Versmaßes das „Gaudeamus“ zweimal vor.
Jankel holte ein Blatt Papier, und sie machten sich ans Werk. Während Vikniksor seine unzugängliche Direktorenwürde vollständig vergessen hatte, zerbrach er sich gemeinsam mit den Jungen über Vers und Reim den Kopf.
Schon zweimal hatte ein Erzieher zur Tür hereingesehen, voller Verwunderung über das merkwürdige Bild und ohne zu wagen, die Zöglinge ins Bett zu scheuchen. Denn sie befanden sich ja unter Vikniksors Schutz.
Nach anderthalb Stunden angestrengten Kopfzerbrechens und langer, schöpferischer Streitgespräche war die Nationalhymne endlich fertig. Die drei Verfasser begaben sich in den Weißen Saal. Dort setzte sich Vikniksor an den Flügel und griff in die Tasten.
Die beiden Schkider legten das Blatt auf den Notenständer und warteten auf ihren Einsatz.
Die Begleitmusik brauste auf, die beiden Jungenstimmen vereinten sich mit dem tiefen Baß des Direktors, und einträchtig schmetterten sie die neue Nationalhymne der Republik Schkid: