Es war nicht gerade der richtige Zeitpunkt für solchen Gesang. Oben, in den Schlafräumen, wollten die Jungen eben einschlafen, während hier unten, in dem halbdunklen riesengroßen Saal, drei Kehlen unbarmherzig ihre Stimmbänder strapazierten in dem Bestreben, sich gegenseitig zu überschreien.

Schule, du bist unser Hort,
unsre Mutter! Lehre,
wie man leben soll hinfort
zu der Heimat Ehre.

Vikniksors Baß überdröhnte die kraftvollen Akkorde des Flügels, und die beiden schrillen, schwachen Stimmen sekundierten ihm nicht immer ganz richtig:

Arbeit steht noch viel bevor,
bis sich öffnet uns das Tor,
um uns freizugeben
für den Weg ins Leben.

Als der Gesang beendet war, stand Vikniksor auf und schöpfte Atem. „Das habt ihr gut gemacht!“ sagte er. „Gleich morgen muß die ganze Schule unsere Nationalhymne singen.“ Stolzgeschwellt marschierten Jankel und Japs hocherhobenen Kopfes an dem Erzieher vorbei und verschwanden im Schlaf raum. Am nächsten Tage ochsten sämtliche Schkider an der neuen Nationalhymne der Republik Schkid, und die Namen von Jankel und Japs waren bei den aufgeregten, hingerissenen Zöglingen in aller Munde. Die Hymne hob den Neuling in olympische Höhen, und beide Verfasser wurden die Helden des Tages.

Am Abend, im Eßraum, sang die ganze Schule ihre Nationalhymne unter Vikniksors Leitung bereits im Chor.

DIE PROPHETEN

Der Mann mit dem Schlapphut * In der Badeanstalt abhanden gekommen * Oper und Operette * Kampf bis zum Sieg * Sirelchholz und Pessimist * Mut der Verzweiflung.

In der Schkid hießen die Erzieher „Propheten“, Im Laufe der Zeit bekamen die Jungen viele zu sehen. Es waren gute und schlechte, böse und sanfte, kluge und dumme, zuweilen auch bloß unerfahrene, die nur ins Kinderheim gekommen waren, um eine Lebensmittelzuteilung und ein Arbeitsbuch zu erhalten. Vom Hunger getrieben, meldeten sich für den pädagogischen Beruf Menschen, die vorher keine Ahnung von dieser Arbeit gehabt hatten. Und dabei ist die Erziehung verwahrloster Jugendlicher eine schwierige Aufgabe. Außer pädagogischem Talent braucht ein guter Erzieher eiserne Nerven, Selbstbeherrschung und eine überdurchschnittliche Willenskraft. Nur jemand, der seinem Beruf wirklich ergeben war, vermochte im Jahre 1919 diese Eigenschaften aufzubringen. Nur solche Leute setzten sich bei der Arbeit in der Schkid durch. Die anderen — Freßpaketaspiranten oder Schwächlinge — nahmen Reißaus, nachdem sie sich den Betrieb ein bis zwei Tage angesehen hatten; denn sie spürten, daß sie der Horde von ausgelassenen frechen Bengeln nicht gewachsen waren. Im Laufe der Zeit bekamen die Jungen viele zu sehen.

Eines Tages trat ein Mann mit einem weichen, breitkrempigen Hut zur schlechtgestrichenen Tür der Schkid herein. Er war klein und schmächtig, hatte ein Vogelgesicht und ein braunes Bärtchen und machte einen gedrückten, schüchternen Eindruck. Bei dem geringsten Geräusch schrak er zusammen. Dann weiteten sich die wässerigen Äuglein entsetzt, und die Lider senkten sich darüber, als erwarte er einen Schlag. Der Mann war überaus ärmlich gekleidet. Ein schmutziggrauer Stoffmantel, der eigentlich schon längst ausgedient hatte, hing ihm wie ein Sack von den schmalen Schultern. Darunter sahen zerknitterte Baumwollhosen hervor. Sie rutschten bis auf die ausgetretenen Soldatenstiefel. Es war ein neuer, bereits festangestellter Erzieher, der sich jetzt im Hause umsehen und die Kinder, mit denen er zu arbeiten hatte, kennenlernen wollte. Wie ein lautloser Schatten glitt er durch die Zimmer und kam dabei auch in den Schlafraum. Dort brannte der Ofen. Japs, Brotkanten und Jankel saßen davor und wärmten sich.

Der kleine Mann betrachtete die Betten.

„Ist dies ein Schlafraum?“ fragte er, obgleich das offensichtlich war. Die Jungen warfen sich einen erstaunten Blick zu. Dann setzte Jankel ein scheinheiliges Gesicht auf. „Ja, dies ist ein Schlafraum“, sagte er zuckersüß. Der Mann räusperte sich leise. „Soso. Hm… Heizt ihr den Ofen?“

„Ja, wir heizen den Ofen. Mit Holzl“ spottete Japs, aber der Mann achtete nicht auf den Spott. „Hm… schlaft ihr hier?“

„Ja, wir schlafen hier.“

Der Mann spazierte ein Weilchen im Zimmer herum, trat dann zur Wand und tippte auf das Porträt Lenins. „Habt ihr das selbst gezeichnet?“ forschte er weiter. Die Jungen witterten einen Jux. Jankel zwinkerte den anderen zu. „Ja, das haben wir selbst gemalt“, gab er zurück. „Wer denn?“

„Ich.“ Jankel ging mit tiefernstem Gesicht zu dem Erzieher hin und baute sich in Erwartung weiterer Fragen vor ihm auf. Der kleine Mann sah sich noch einmal im Zimmer um. Sein Blick blieb auf den Betten hängen. „Sind das eure Betten?“„Ja, das sind unsre Betten.“

„Schlaft ihr darin?“

„Ja, wir schlafen darin.“

„Sie sind übrigens aus Holz“, fügte Jankel harmlos hinzu.

„Wer?“ Der Erzieher hatte nicht verstanden. „Unsere Betten.“

SCHKID. Die republik der strolche i_010.png

Der Mann räusperte sich leise.

„Ach, sie sind aus Holz! Soso“, murmelte der Mann. Er wußte nicht, was er sonst sagen sollte, aber Jankel war bereits in Fahrt. „Ja, sie sind aus Holz“, fuhr er ebenso harmlos fort. „Obendrauf liegen Decken. Die Betten stehen auf dem Fußboden. Und der Fußboden ist ebenfalls aus Holz.“

„Ja, der Fußboden ist aus Holz“, bestätigte der Prophet mechanisch. Japs kicherte. Das war ein Heidenspaß. „Aufgepaßt!“ sagte er in Vikniksors übermäßig gedehnter Sprechweise voll ernster Würde zu dem Erzieher. „Das hier ist ein Ofen.“ Der Prophet wurde allmählich nervös, aber der Spaß nahm seinen Fortgang.

„Der Ofen ist aus Kacheln. Hier steckt man das Holz rein.“ Endlich begriff das Männlein, daß es auf den Arm genommen wurde, und hastete aus dem Zimmer.

Bald wußten sämtliche Schkider, daß ein Mann durch das Haus ging, der nach allem und jedem fragte.

Eine Schar von Neugierigen heftete sich an seine Fersen, während die Frechsten vorneweg gingen und unter allgemeinem Gelächter verkündeten:

„Dies ist eine Tür!“

„Und das ist eine Klasse.“

„Hier stehen Bänke. Sie sind aus Holz.“

„Und das sind Wände. Rennen Sie nicht dagegen.“ Nach einer halben Stunde flüchtete sich der Neue, zu Tode erschöpft, in die Kanzlei. Vor der Tür johlten die Jungen, die das Opfer des Wissensdurstes verhöhnten.

Das Männlein war von dem Empfang dermaßen verschreckt, daß es die Schkid niemals wieder betrat. Der Mann mit der Melone hatte begriffen, daß er hier nicht am richtigen Platz war, und sich genauso leise entfernt, wie er gekommen war. Mit anderen Propheten ging es nicht so glimpflich ab. Eines Tages stellte Vikniksor den Jungen einen neuen Erzieher vor. Er machte einen ausgezeichneten Eindruck. Selbst die Schkider, die nicht so leicht hinters Licht zu führen waren, hielten den Neuen für kraftvoll und sympathisch.

Er war jung, gut gebaut und verfügte über eine klangvolle Stimme. Schwarze, widerspenstige Locken krönten den stolz erhobenen Kopf, und die Augen hatten löwenhaftes Feuer. Gleich am Tage seines Dienstantritts mußte er eine Probe seiner pädagogischen Fähigkeiten ablegen. Er sollte die Jungen in die Badeanstalt führen.

Aber der junge Mann verzagte nicht.

Schon in der vierten Pause dröhnte seine Stimme gebieterisch durch die Klassen:

„Zöglinge! Zum Wäscheempfang antreten! Ihr geht heute in die Badeanstalt.“

Die Schkider waren schwer in Bewegung zu bringen. Einen Besuch der Badeanstalt schätzten sie sowieso nicht. Sofort stöhnte ein Dutzend von wehleidigen Stimmen:


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