Er mußte seine Taktik ändern, um zu siegen, und er tat es. Nachdem die Jungen Platz genommen und sich ein wenig beruhigt hatten, fragte Viknjksor freundlich: „Nun sagt mir einmal offen, Kinder, warum ihr so einen Radau macht?“ „Weshalb haben Sie Pal Wanytsch weggejagt?“ war die empörte Gegenfrage der Strolche.
„Kinder! Ihr müßt doch begreifen, daß Pal Wanytsch kein Lehrer sein kann.“
„Warum nicht?“
„Er ist doch zu jung. Sagt selbst, wollt ihr denn gar nichts lernen?“
„Aber er unterrichtet uns doch!“ riefen aufgeregte Stimmen. Vikniksor hob die Hand.
„In welchem Fach?“ forschte er, nachdem wieder Ruhe eingetreten war. „Was hat er im letzten Monat mit euch durchgenommen?“ Die Jungen machten verlegene Gesichter. „Alles mögliche… fällt einem nur nicht so schnell ein!“
„Er sang prima Lieder! Von runden Rüben!“ ergänzte Mamachen unter allgemeinem Gelächter.
Die Stimmung veränderte sich merklich, und Vikniksor machte sich das zunutze.
„Kinder!“ sagte er traurig. „Daß ihr euch nicht schämt. Ihr geht in die oberste Klasse. Ihr seid schließlich gescheite, aufgeweckte Jungen. Und ihr haltet zu einem Menschen, bloß weil er von 'runden Rüben' singen kann?“
Die Klasse kicherte unentschlossen.
„Pal Wanytsch ist überhaupt kein Lehrer — er ist ein Zirkusclown und nur dadurch interessant, daß er den dummen August spielt.“
„Stimmt!“ rief einer. „Ein richtiger dummer August!“
„Na also“, fuhr Vikniksor fort. „Clowns kann man im Zirkus bewundern, aber sie geben schließlich keinen Literaturunterricht.“ Die Jungen schwiegen. Sie saßen da, das Kinn auf die Fäuste gestützt, und starrten den im Zimmer umhergehenden Vikniksor wortlos an. „Ihr könnt wählen!“ betonte Vikniksor. „Entweder Pal Wanytsch oder die Literatur. Wenn ihr weiter randaliert, bleibt Pal Wanytsch vielleicht in der Schule. Aber dann sind wir gezwungen, den Literaturunterricht vom Lehrplan zu streichen.“
Er hatte einen wunden Punkt berührt. Die Schkider wollten trotz alledem etwas lernen.
„Leute!“ rief Japs. „Ruhe! Was meint ihr dazu?“
„Ruhe!“ wiederholten die übrigen. Und alle schrien durcheinander. Es war ihnen plötzlich so leicht und froh zumute wie nach einem schweren Gewitter.
Der Skandal war vorbei. Pal Wanytsch blieb entlassen. Der Rebellenstab löste sich auf.
„Wir haben ganz schönen Wind gemacht“, sagte Japs nach dem Abendtee zu seinen Kameraden. „Aber eigentlich nicht wegen Pal Wanytsch, findet ihr nicht auch?“
„Das stimmt“, bestätigte Zigeuner. „Wir haben bloß so randaliert — zum Spaß. Aber Pal Wanytsch war eine tolle Marke.“
„Tatsache!“ brummte Jankel zustimmend. „Solche Leute wie Pal Wanytsch müßte man verwichsen.“
„Auf ihn mit Gebrüll!“ schrie Spatz empört. Aber dafür war es zu spät. Pal Wanytsch hatte die Schule verlassen. Zurück blieb nichts als eine wirre Erinnerung.
Einer anderen Taktik bediente sich ein Lehrer, der wegen seiner außergewöhnlichen Magerkeit den Spitznamen „Streichholz“ bekommen hatte. Es war ein unglücklicher Mensch. Als aktiver Offizier hatte er zwei Kriege mitgemacht, war an der Front verwundet worden und litt seitdem an Schwerhörigkeit. Das hatte ihn boshaft und reizbar gemacht. Er wurde als Turnlehrer angestellt und schlug sich von Anfang an auf die Seite der Direktion. Jede Anweisung Vikniksors und des Pädagogischen Rates befolgte er mit peinlicher Genauigkeit. Er bestrafte die Schüler erbarmungslos, schrieb ellenlange Tadel ins Klassenbuch oder entzog ihnen den Urlaub.
Ein guter Pädagoge ist gewöhnlich auch ein guter Diplomat. Er überlegt es sich genau, bevor er einen Tadel einschreibt oder den Schüler auf andere Art bestraft.
Streichholz machte sich darüber keinerlei Gedanken. Er warf mit den Strafen nur so um sich. Seine einzige Sorge war, sich an die Vorschriften zu halten.
Mit finsteren Blicken stelzte er auf seinen langen, mageren Beinen durch die Schkid.
„Stell dich in die Ecke“, knurrte er gleichgültig. „Und du gehst in den Karzer… Du kriegst kein Mittagessen… Du darfst heute nicht Spazierengehen… und dir entziehe ich den Urlaub…“ Er wurde ingrimmig gehaßt. Ein Kampf entbrannte, der mit dem Sieg der Schkider endete.
Der Schulrat stellte fest, daß Streichholz unpädagogisch arbeitete, und er mußte gehen.
Genauso erging es dem „Pessimisten“, einem halbverhungerten Studenten, der weder pädagogische Praxis noch pädagogisches Talent besaß und mit den Schkidern nicht fertig wurde. Im Laufe der Zeit bekamen die Schkider viele Propheten zu sehen; an die sechzig tauchten innerhalb von zwei Jahren in der Schule auf. Sie kamen und gingen.
Langsam schied sich die Spreu vom Weizen, und allmählich kristallisierten sich die wirklichen, talentierten, ihrem Beruf verschworenen Pädagogen heraus. Von den sechzig Leuten brachte es nur ein Dutzend fertig, den Weg zu den Herzen der verwahrlosten Strolche zu finden, ohne sich mit ihnen auf eine Stufe zu stellen. Dieses Dutzend trug das schwere Schkid-Boot auf den Schultern ans Ufer, machte es seetüchtig und schickte es auf große Fahrt — in das weite Meer des Lebens.
Olga Afanassjewna war sanft, still und gutmütig, scheinbar allzu gutmütig. Als sie sich dem Direktor als Anatomielehrerin vorstellte, musterte er sie ungläubig und unfreundlich. Sie würde wohl kaum mit seinen wilden Zöglingen fertig werden, glaubte er. Aber im Laufe der Zeit stellte sich das Gegenteil heraus. Was anderen Lehrern nur durch Drohungen und Strafen gelang, erreichte sie mühelos — ohne den geringsten Druck.
Sie sah zwar gebrechlich und kränklich aus, besaß jedoch einen unerschöpflichen Vorrat an Kaltblütigkeit. Sie schimpfte niemals, sie bedrohte niemanden. Trotzdem wurde sie schon nach einem Monat von allen Klassen geliebt, und überall erzielte sie gute Unterrichtserfolge.
Selbst die größten Faulpelze kamen voran.
Mamachen, Jankel und Spatz — eingefleischte Drückeberger — legten plötzlich großes Interesse für das menschliche Skelett an den Tag und zeichneten Wadenknochen und Scheitelbeine in ihre Hefte. Olga Afanassjewna verstand es, ihren Schülern die Liebe zum Wissen einzuflößen. Sie hätte viel erreicht, wenn nicht eine schwere Krankheit sie gezwungen hätte, die Schkid für einige Zeit zu verlassen.
Und blut'ge Knabendecken stehn vor mir…
Der Bürgerkrieg ging zu Ende. Ein Leben in Frieden begann. Überall in der Stadt wurden neue Klubs und Bildungshäuser eröffnet.
Auch im Kinderheim trug man sich mit diesem Gedanken. Die Jungen hatten reichlich freie Zeit, die vernünftig ausgenutzt werden konnte. Da tauchte Mirra Borissowna auf, eine rundliche, lebenslustige Jüdin. Sie kam an einem trüben, langweiligen Herbstabend in die Klasse und brachte gleich Leben in die Bude.
„Da bin ich, Jungens. Wir werden zusammen arbeiten.“
„Herzlich willkommen!“ Mamachen quittierte ihr Erscheinen mit einem mürrischen Gesicht. „Doch die Arbeit schlagen Sie sich aus dem Kopf. Damit kommen Sie nicht bei uns durch.“
„Weshalb nicht?“ Die Lehrerin war aufrichtig erstaunt. „Ist es denn so schlimm, ein nettes Stück einzuüben und es aufzuführen? Euch macht es Spaß und den anderen auch.“
„Oho! Ein Theaterstück? Haste dir gedacht!“
„Halt die Klappe, Mamachen! Das ist doch 'ne Wucht!“ widersprachen die anderen. Mit Feuereifer gingen sie an die Arbeit. Die Feiertage standen vor der Tür, und Mirra Boris — sownamußte sich mächtig beeilen. Sie verbrachte sogar all ihre freie Zeit in der Schkid.
Schnell waren die Stücke gewählt — der „Geizige Ritter“ und Auszüge aus „Boris Godunow“ von Puschkin. Abends kamen sie in der Klasse zusammen und probten.
Japs hatte zwei Monologe des Zaren Boris auswendig gelernt. Er trat mitten in die Klasse und eröffnete die Tragödie. Wenn er aber an die Stelle kam „Und blutbedeckte Knaben stehn vor mir…“, stockte er verwirrt. Sein schauspielerisches Temperament entschwand, und er schloß stotternd: „Und blut'ge Knabendecken stehn vor mir…“