„Jeonin! Wieder falsch!“ unterbrach ihn Mirra Borissownas sanfte Stimme nachdrücklich.
Japs weinte beinahe vor Wut und fing wieder von vorn an. Aber schließlich schaffte er es trotz alledem. Schnell vergingen die langen Schkid-Abende bei den Proben. Die Strolche liebten die lustige Lehrerin bald so, daß sie sich richtig nach ihr sehnten, wenn sie keinen Dienst hatte.
„Mirra ist da!“ klang es durch die ganze Schule, sobald ihr Halbpelz und ihr weicher Orenburger Schal auftauchten. Der Tag der Aufführung war für sie ein Triumph. Die Jungen spielten mit hinreißendem Schwung. Es war der schönste Abend, den die Schule je erlebt hatte, und nach der Vorstellung hatten die Schkider sogar eine Überraschung parat. Jankel, der einstimmig zum Ansager gewählt worden war, kam auf die Bühne und verkündete, daß die Darbietungen noch nicht zu Ende seien. Die Schüler hätten aus eigenem Antrieb ein Gedicht verfaßt, um ihre Lehrerin zu ehren. Dann las er vor:
Seit diesem Tage waren die Schkider und ihre Lehrerin noch unzertrennlicher als zuvor. Aber eines Tages — es war mitten im Winter — kam Mirra in die Schule und teilte verlegen mit, sie wolle heiraten und Leningrad verlassen. Die Trennung fiel den Jungen schwer, doch sie mußten sich damit abfinden. Die lustige Lehrerin in dem Soldatenhalbpelz verschwand für immer aus der Schkider Republik. Als Erinnerung hinterließ sie die Beziehung zu einer Bekannten, die in einem Filmtheater angestellt war und Mirras Schülern, Jankel und Japs, wöchentlich einmal Kinokarten verschaffte.
Das waren die Erlebnisse mit den beiden Erzieherinnen, die es verstanden hatten, in den schwererziehbaren Jugendlichen Anhänglichkeit und Wissensdurst zu erwecken. Die ganze Schule hatte sie geliebt. „Amöbe“ dagegen wurde verabscheut, obgleich er wohl sein Fach beherrschte.
Er war ein Mann in mittleren Jahren, häßlich von Gestalt und mit einer niedrigen Affenstirn. Er unterrichtete in Naturkunde, liebte sein Fach sehr und versuchte auf alle erdenkliche Weise, auch seinen Schülern diese Liebe einzuimpfen. Aber das gelang ihm kaum. Die Jungen haßten die Naturkunde genauso wie den Lehrer. Amöbes mürrische Pedanterie mißfiel ihnen besonders. In einer Unterrichtsstunde erzählte er zum Beispiel eifrig von den Mikroorganismen. Plötzlich bemerkte er, daß die letzte Bank, auf der Japs saß, mit anderen Dingen beschäftigt war. „Jeonin! Setz dich auf die vorderste Bank!“ befahl er ärgerlich. „Warum denn?“ fragte Japs erstaunt. „Jeonin, setz dich auf die vorderste Bank!“
„Ich sitze doch hier sehr gut.“
„Setz dich auf die vorderste Bank.“
„Was schikanieren Sie mich!“ quengelte Japs. „Setz dich auf die erste Bank!“ war die monotone Antwort. „Nein! Verdammter Prophet!“ schrie Japs wütend.
Amöbe überlegte eine Weile. Dann fing er wieder von vorn an. „Jeonin, geh aus der Klasse.“
„Warum?“
„Geh aus der Klasse.“
„Ja, wozu denn?“
„Geh aus der Klasse.“
Außer sich vor Wut stampfte Japs mit dem Fuß. Seine Knopfnase rötete sich. Die Augen quollen heraus.
„Jeonin, geh aus der Klasse!“ wiederholte Amöbe ungerührt.
Japs entlud sich in einem wilden Schwall von Schimpfworten.
He! Alnikpop!
„Amöbe! Dreimal verfluchter Prophet! Immer mußt du mich schikanieren, du Holzkopf!“ Amöbe hörte sich das gelassen an. „Jeonin!“ bestimmte er dann, „du reinigst heute die Toilette.“ Und damit gaben sich beide Parteien zufrieden.
Wegen dieser unheimlichen Ruhe war Amöbe bei den Schkidern so unbeliebt. Aber niemand bezweifelte seine Ehrenhaftigkeit; er wurde gefürchtet und geachtet.
Doch die ausgeprägtesten Charaktere, die besten Erzieher, auf die sich die Schule stützen konnte, waren die beiden Propheten Alexander Nikolajewitsch Popin und Konstantin Alexandrowitsch Medowitsch, abgekürzt Alnikpop und Kostalmed genannt.
Sie kamen fast gleichzeitig in die Schkid und arbeiteten sich schnell aufeinander ein.
Alnikpop war nicht mehr jung, klein, munter und dick, hatte eine hohe Stirn und einen Ansatz zur Glatze, ein schwarzes Darlehen und eine wendige Gestalt. Auf seiner Nase saß ein Zwicker mit zersprungenen Gläsern. Außerdem besaß er einen wahrhaft unerschöpflichen Vorrat an Energie, Kraft, Wissen und Erfahrung. In der ersten Zeit war er recht unbeliebt. Wenn seine untersetzte Gestalt in der alten Lederjacke irgendwo auftauchte, stürzten sich die Schkider auf ihn, um ihn zu piesacken. In den Pausen heftete sich eine ganze Horde von Banditen an seine Fersen und schmetterte alle möglichen Spottverse, die von den älteren Schülern verfaßt worden waren.
„He! Alnikpop!“ grölten die Bengel und zerrten ihn an der Jacke, aber der Lehrer schien das überhaupt nicht zu hören. Sie bauten sich direkt vor seiner Nase auf, starrten unverschämt auf seine zerrissenen, nachlässig geflickten Stiefel und improvisierten:
Zuweilen riß dem neuen Erzieher die Geduld. Dann wandte er sich schroff dem schlimmsten Quälgeist zu, überwand aber seinen Zorn und drohte ihm nur mit dem Finger.
„Sieh dich vor, du Gänserich!“
Daraufhin wurde er prompt „Gänserich“ getauft.
Aber die Piesackerei hörte sehr bald auf. Der Neue hatte die-Probe bestanden — er war stärker als die Zöglinge. Seine Haltung imponierte ihnen.
Er wurde als Prophet von Format anerkannt.
In seiner pädagogischen Strenge wußte er Maß zu halten. Er ließ den Jungen kernen dummen Streich durchgehen, bestrafte sie jedoch nicht sofort. Erst wenn er das Vergehen gründlich untersucht hatte, diktierte er dem Schuldigen eine Strafe zu oder las ihm nur die Leviten.
Bloß in seinem Spezialfach — der russischen Geschichte — ließ er keine Gnade walten. Hier ging er gegen alle, die ihre Aufgaben schlecht gelernt hatten, mit schonungsloser Härte vor. Die Faulpelze mußten ihren Wissensmangel schwer büßen.
Die Zeit verging. Die Jungen gewöhnten sich an Alnikpop, und bald stellte sich heraus, daß er nicht nur ein ausgezeichneter Erzieher, sondern auch ein guter Kamerad war.
Abends holten die älteren Jungen Alnikpop mit Vorliebe zu sich, denn sie konnten sich mit ihm über viele Dinge gut unterhalten. Oft ging er nach dem Abendtee zu ihnen, setzte sich mit krummem Rücken auf die Bank — dabei blitzte sein zersprungener Zwicker immer auf — und erzählte eine Anekdote, etwas von den letzten internationalen Ereignissen, eine Episode aus seiner Schulzeit oder eine Geschichte aus seinem Studentenleben. Manchmal diskutierte er auch mit den Jungen über Majakowski oder Block, berichtete von der illegalen Zeitschrift, die er im Gymnasium herausgegeben hatte, oder von seinen Erlebnissen als Rezensent eines zweitrangigen Verlages. Die Unterhaltung zog sich in die Länge und endete erst, wenn es zum Schlafengehen klingelte.
So verwandelte sich der neue Erzieher allmählich in einen älteren Kameraden der Schkider, blieb jedoch dabei ein strenger, anspruchsvoller und gerechter Prophet. Kostalmed kam einen Monat später.
Er war aus dem Kloster in die Schkid versetzt worden. Dort hatte er mehrere Monate lang als Aufseher gearbeitet. Diese Tatsache genügte, um jede Neigung zum Spott im Keim zu ersticken. Sein Äußeres flößte selbst dem berüchtigtsten Raufbold eine unwillkürliche Achtung ein. Seine Löwenmähne, sein rotbrauner Bart und seine Reckengestalt im Verein mit seiner furchtbaren Donnerstimme erschreckten die Schkider dermaßen, daß sie ihn in ihrer Angst für einen Schlächter aus der Abdeckerei hielten und ihn „Abdecker“ tauften. Doch sie mußten diesen Spitznamen schon nach wenigen Tagen fallenlassen.