„Ja, wir leben nur von Kartoffeln.“

„Na, ich danke. Sonst nichts?“

„Was willst du denn außerdem? Ein Kotelett? Wir können von Glück sagen, daß wir Kartoffeln haben. Durch einen reinen Zufall sind noch welche da. In anderen Schulen sieht es schlechter aus.“ Slajonow versank in nachdenkliches Schweigen. Der Diensthabende brachte feierlich ein Tablett mit Brot herein. Würdevoll mit den Schlüsseln klirrend, folgte ihm Jankel, der Küchenälteste. In den beiden vergangenen Wochen hatte er sich schon ausgezeichnet in sein neues Amt eingearbeitet.

„Wieder bloß ein Achtel!“ murmelte Sawuschka geknickt. Es war ein ewig hungriger, mißmutiger Neuer aus der zweiten Abteilung. Unter Alnikpops vorwurfsvollem Blick verstummte er. Sawuschkas Niedergeschlagenheit übertrug sich auf seine beiden Nachbarn, die genausoviel nörgelten wie er. Kusja und Korenow befanden sich dauernd auf Nahrungssuche, und dieses gemeinsame Interesse hatte sie so eng zusammengeführt, daß sie Blutsbrüderschaft schlossen. Wortlos beobachtete Slajonow das jammernde Dreigespann. Für einen Neuen schickte es sich nicht, in die intimen Unterhaltungen der Schkider einzugreifen.

Jankel ging um die beiden Tische herum und warf jedem dabei verächtlich seine Portion hin. Er wunderte sich insgeheim, daß die Jungen so nach dem Brot gierten. Ihn ließ trocken Brot vollständig kalt — wahrscheinlich, weil in seiner Küchenschublade ein ansehnliches, zwei Pfund schweres Stück lag, das beim Abwiegen übriggeblieben war. „Jankel, gib mir einen Kanten!“ flehte Kusja kläglich. „Geh zum Teufel!“ schnauzte Jankel. Die Brotkanten waren für die Oberklasse reserviert. Das Brot verschwand im Handumdrehen. Nur Slajonow aß seine Portion nicht. Gleichgültig schob er sie beiseite und löffelte lässig seine Suppe.

„Ißt du dein Brot vielleicht nicht?“ forschte Kusja mit sehnsuchtsvollen Blicken auf das verlockende „Achtel“. „Keinen Appetit“, antwortete Slajonow mit derselben Gleichgültigkeit wie zuvor.

„Gib es mir! Ich esse es“, bot sich Kusja eifrig an. Doch Slajonow hatte sich das Brot schon in die Tasche gesteckt. „Ich krieg es schon im Unterricht auf.“ Kusja schwieg beleidigt. Nachdem die als Suppe titulierte Flüssigkeit hinuntergeschlungen war, wurde der zweite Gang aufgetragen — Bratkartoffeln. Ein widerlich süßlicher Geruch zog durch den Eßraum. Die Schkider schnupperten bedrückt. „Wieder mit Seehundstran!“

„Hört das immer noch nicht auf? Da bleiben einem die Kartoffeln im Halse stecken!“

Doch nur die erste Kartoffel schluckte sich mühsam. Dann gewöhnte man sich an den Seehundsgeschmack und konnte die übrigen ohne Ekel in sich hineinschlingen — Hauptsache, der Bauch wurde ordentlich voll.

Der Seehundstran war Vikniksors ganzer Stolz.

„Stellt euch nicht so an, Jungens!“ schalt er, wenn sie dagegen rebellierten. „Freut euch, daß ihr wenigstens Seehundstran bekommt — in anderen Heimen gibt es nicht einmal den. Und ganz ohne Fett kann der Mensch nicht leben.“

„Und damit haben wir unser Fett gekriegt!“ witzelte Japs. Angeekelt starrte er auf die Kartoffelschüssel. Bei dem Geruch drehte sich ihm der Magen um.

Die Kartoffeln sahen wirklich verlockend aus, aber der widerwärtige Beigeschmack verdarb einem jeden Appetit. Japs kämpfte einen Augenblick mit sich, doch der Abscheu war stärker als sein Hunger. Er spießte eine Kartoffel auf die Gabel und schleuderte sie erbost über den Tisch. Die gelbe Scheibe hinterließ eine Fettspur, als sie über das Wachstuch rutschte und Brotkanten, der vollständig in sein Essen vertieft war, an die Stirn klatschte.

Durch das schallende Gelächter wurde Alnikpop aufmerksam. Er wandte sich um, spähte nach dem Missetäter aus, sah, daß sich Brotkanten die Stirn wischte, und blickte zu Japs hinüber. „Vor die Tür!“ befahl er kurz.

„Warum denn?“ versuchte Japs zu protestieren, aber Alnikpop hatte bereits Bleistift und Notizbuch hervorgeholt, um ihm einen Tadel einzuschreiben.

„Na, dann schreib doch, wenn du es nicht lassen kannst, Prophet!“ Damit verließ Japs den Raum.

Das Mittagessen war zu Ende, aber Kusja konnte das Brot in Slajonows Tasche noch immer nicht vergessen. Er wich ihm nicht von der Seite.

Als die Jungen in die Klassen hinaufgingen, hielt Slajonow plötzlich Kusja zurück.

„Weißt du was?“

„Na?“ Kusja spitzte die Ohren.

„Ich gebe dir jetzt meine Brotportion. Und dafür kriege ich deine vom Abendtee.“ Kusja runzelte die Stirn.

SCHKID. Die republik der strolche i_013.png

Japs kämpfte einen Augenblick mit sich.

„Du Gauner! Zum Abendtee gibt es ein Viertelbrot, und du willst mir jetzt ein Achtel andrehen.“ Slajonow änderte sofort den Ton.

„Wie du willst. Ich zwinge dich schließlich nicht dazu.“ Er hatte das Brot schon hervorgeholt. Jetzt steckte er es wieder in die Tasche.

Kusja schwankte. Nimm es nicht! Nachher mußt du noch mehr hungern! warnte ihn seine Vernunft. Aber der Hunger war stärker — er siegte.

„Gib es her, zum Teufel!“ schrie er, als er sah, daß Slajonow in den Saal gehen wollte.

„Spinne“ machte sofort kehrt und steckte Kusja das Brot in die ausgestreckte Hand.

„Du bist mir also dein Abendbrot schuldig“, sagte er gelassen. Kusja wollte ihm das unheilvolle Brot zurückgeben, aber seine Zähne hatten sich schon hineingegraben.

Abends betätigte sich Kusja mit knurrendem Magen als Zahnmusiker. Das Brot, das er zum Abendessen bekommen hatte, war in Slajonows Tasche gewandert. Er hatte unbeschreiblichen Hunger, konnte aber nirgendwo etwas Eßbares auftreiben. Er war der schüchternste, gedrückteste Junge aus der zweiten Abteilung — deshalb brachte er es nicht fertig, sich Brot oder sonst etwas zu verschaffen. Andere wären auf den Gedanken gekommen, die Küche nach Essenresten zu durchstöbern, aber Kusja vermochte sich nicht dazu aufzuraffen. Er war die verkörperte Demut und Erniedrigung. Kaum zu glauben, daß er früher Einbrüche und Gewalttaten begangen haben sollte! Aus reiner Demut schien er eine fremde Schuld auf sich genommen zu haben, die er nun in der Schkid büßte.

Neben ihm saß Korenow, sein Blutsbruder, am Tisch und schmatzte, daß es Kusja übel wurde. Korenow schien überhaupt nicht zu merken, daß sein Freund kein Brot hatte. „Gib mir einen Happen, ja?“ bettelte Kusja zaghaft.

„Wo hast du denn dein Brot?“ fuhr Korenow ihn an.

„Ich war es dem Neuen schuldig.“

„Wieso?“

„Na, gib mir doch ein Stück!“

„Nein, tu ich nicht.“ Korenow schmatzte weiter.

Der gequälte Kusja faßte einen Entschluß. Er wandte sich quer über den Tisch an Slajonow.

„Leih mir eines bis morgen. Bis zum Morgentee.“

Slajonow blickte gleichgültig auf, holte dann Kusjas Viertelbrot aus der Tasche, brach es mitten durch — der ganze Tisch war Zeuge — und warf Kusja die eine Hälfte hin. Die andere Hälfte steckte er sorgfältig wieder in die Tasche.

„He, warte! Gib mir das Brot!“ rief Sawuschka dazwischen. Er hatte seine Portion schon lange verdrückt und war noch immer nicht satt.

„Gib es mir. Du kriegst es morgen wieder“, wiederholte er. „Dafür bekomme ich aber deine ganze Morgenportion“, warnte ihn Slajonow kaltblütig, während er ihm die andere Hälfte von Kusjas Brot reichte.

„Klar, mach' ich. Keine Sorge.“

Am nächsten Tage hatte Slajonow nach dem Morgentee zwei Viertelbrote übrig. Eines lieh er den Hungermäulern Sawuschka und Kusja, das zweite verkaufte er an einen Jungen aus der ersten Abteilung. Das gleiche passierte beim Mittag-und beim Abendessen.

Slajonows Einkommen wuchs. Zwei Tage später leistete er sich bereits einen Luxus — er kaufte sich für ein Achtelbrot ein Notizheft, um seine Schuldner einzuschreiben. Ihre Zahl vergrößerte sich mit unwahrscheinlicher Geschwindigkeit. Schon am nächsten Tage verdoppelte er seine Lebensmittelration, und nach einer Woche hatte er in seiner Bank einen Brotvorrat angelegt. Er war plötzlich aus einem kleinen, unauffälligen Neuling zu einer gewichtigen Autorität geworden.


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