Doch er kam — zusammen mit Slajonow.
Stolz erhobenen Hauptes sah Slajonow die Jungen an und wies dann zornig mit dem Finger auf Türke.
„Der weigert sich, die Schulden zu bezahlen, Zigeuner!“ Die Jungen hielten den Atem an. Ihre Augen bohrten sich in Zigeuners finsteres Gesicht. Jetzt mußte die Entscheidung fallen. Ja oder nein? Für oder wider?
„Ich bin zu ihm gegangen“, jammerte Slajonow, „und hab' ihm gesagt, daß er seine Schulden bezahlen soll, aber er lacht bloß, der Bandit, und verhöhnt mich.“
Zigeuner antwortete nicht. Sein Gesicht verfinsterte sich, und die feinen Nasenflügel bebten. Plötzlich wandte er sich zu Slajonow um und brach in einen Schwall von Schimpfworten aus.
„Was fällt dir ein? Willst du mich zu deinem Totschläger oder deinem Prügelknaben machen? Ich bin überhaupt nicht verpflichtet, hinzugehen und deine widerliche Fresse zu schützen! Laß mich in Frieden, sonst kriegst du die Keile! Du schmieriger Jammerlappen!“ Die Tür knallte hinter ihm zu, und Slajonow blieb allein inmitten seiner Feinde zurück — hilflos und kläglich.
Die Jungen schwiegen böse. Slajonow erkannte die Gefahr und raste zur Tür, doch Jankel vertrat ihm den Weg und stieß ihn zurück. „Reingefallen, mein Junge!“ kreischte Türke, und eine wuchtige Ohrfeige klatschte auf Slajonows fette Wange. Slajonow ächzte. Ein Schlag auf den Hinterkopf ließ ihn in die Knie gehen.
Einer boxte ihn mit aller Kraft auf die Nase, noch einmal und noch einmal…
Hilflos versuchte sich der fette Wucherer mit den Händen zu schützen, doch der nächste Schlag streckte ihn zu Boden.
„Au! Jungens! Warum haut ihr mich?“ jaulte er, aber die Hiebe prasselten weiter.
Sie verprügelten ihn lange, mit einer Erbitterung, in der sich ihr ganzes Hungerdasein Luft machte. Endlich kamen sie zur Besinnung. „Schluß. Zum Teufel mit der Drecksau!“ keuchte Türke. „Schluß! Laßt ihn. Kommt.“
Jämmerlich zerschunden hockte Slajonow neben dem Abort in der Ecke und wischte sich schluchzend mit dem Ärmel das Blut ab, das ihm aus der Nase lief. Die Jungen gingen hinaus. Mit Windeseile verbreitete sich die Nachricht von dem Fall in der ganzen Schkid.
Die Großen hielten in der unteren Toilette eine Versammlung ab, in der sie die Resolution faßten, alle Schulden für liquidiert, die Sklaverei für aufgehoben zu erklären und in Zukunft derartige Dinge zu verhindern.
Die Schkid, die sechs Wochen lang gehungert hatte, atmete befreit und glücklich auf.
Die Sklaven von gestern waren wie erlöst, aber auch die Großen fühlten sich erleichtert.
Der Druck, der auf allen gelastet hatte, war verschwunden. Sie erkannten, daß sie großenteils die Schuld daran getragen hatten, und freuten sich nun um so mehr, daß das Unrecht durch ihre Mitwirkung wiedergutgemacht war.
Slajonows Sturz hatte sich schnell und überraschend vollzogen, als eine Katastrophe, die er niemals erwartet hatte. Mit einem Schlage hörten seine sämtlichen Einkünfte auf, mit einem Schlage wurde er ein hilfloses Häufchen Unglück. Und was das schlimmste war — er hatte keinen einzigen Freund. Alle gingen ihm aus dem Wege. Selbst Kusja, der noch gestern vor ihm auf den Knien gelegen hatte, sah ihn jetzt bloß verächtlich über die Schulter an.
Zwei Tage später wurde Sawuschka aus dem Karzer entlassen und von jeder Schuld freigesprochen.
Die Schkider waren wie ein Mann für ihn eingetreten, und die Großen hatten Vikniksor von den Untaten des großen Wucherers berichtet.
Als Sawuschka frei war, verprügelte er Slajonow noch einmal, und am nächsten Tage wurde der einstmals allmächtige Wucherer selbst in den Karzer gesteckt. Doch zu ihm kam niemand, um ihn in seiner Haft zu trösten.
Ein paar Tage danach war Slajonow verschwunden. Die Tür zum Karzer stand offen, das Schloß war erbrochen und Slajonow aus der Schkid entflohen.
Einige behaupteten, er sei nach Sewastopol gefahren, andere meinten, er wohne in Ligowka bei seinen alten Kumpanen, den Taschendieben.
Aber das waren nur Gerüchte.
Slajonow blieb endgültig verschwunden.
So endeten die Untaten des großen Wucherers — eines der schwersten, schmutzigsten Kapitel aus der Geschichte der Republik Schkid.
Noch lange dachten die Schkider an ihn zurück, und wenn sie abends am Ofen saßen, erzählten die „Alteingesessenen“ den „Neuen“ maßlos übertriebene Geschichten von den Taten des großen, legendären Wucherers Slajonow.
STRELNA IN AUFRUHR
Strahlender Mal * Die große Völkerwanderung * Graf Schielauge als Einbrecher * Im Erholungsheim * Sonnenbäder * Kabarett * Alle gegen einen * Der „Spiegel“ Strelna in Aufruhr * Die Geschichte eines mißlungenen Raubzuges * Die Chronik und die Gruppeneinteilung.
Erster Mai.
Ein Strom von Klängen, Fahnen, Menschen und Sonne überflutete die kleine Republik.
Seit dem frühen Morgen brandeten Wellen von Demonstranten gegen die Mauern der Schkid.
Noch niemals waren die Schkider so aufgeregt gewesen. Sie drängten sich an den offenen Fenstern und begrüßten die Demonstranten mit Hurrarufen. Am liebsten hätten sie sich in die Kolonnen eingereiht, um zum Platz zu marschieren; doch in diesem Jahre war Kindern die Teilnahme an der Demonstration verboten.
Der Erste Mai war die strahlende Verkörperung des Frühlings. Er bescherte den Schkidern Semmeln — schneeweiße Semmeln, die sie schon lange nicht mehr bekommen hatten.
Die Semmeln wurden zum Frühstück ausgegeben. Nach dem Mittagessen hielt Vikniksor eine Rede über den Ersten Mai, und dann sangen die Schkider die Internationale.
Am Abend gingen sie samt und sonders — vom Jüngsten bis zum Ältesten — in die Stadt, um die festlich beleuchteten Straßen zu bewundern, der Musik zu lauschen und sich vergnügt durch die festlich gestimmte Menge zu drängen.
Voller Freude begingen die Schkider den Frühlingsanfang, und diese Freude wuchs noch, als sie erfuhren, das Amt für Volksbildung würde seinen Zöglingen ein Erholungsheim zur Verfügung stellen. Als dann noch bekannt wurde, das Erholungsheim läge in Strelna und sie sollten in nächster Zeit dorthin übersiedeln, strömte die ganze Schkid jubelnd und lärmend auf die Straße. Zum Umzug wollten sie die Straßenbahn benutzen. Am Reisemorgen wurden alle Kräfte mobilisiert. Die Jungen bündelten die Wäsche, rollten die Matratzen zusammen und schleppten die Betten auf die Straße. Eifrig waren sie bei der Sache. Auch die Knirpse aus der ersten Klasse fühlten sich von der Wichtigkeit des Augenblicks durchdrungen. Sie griffen genauso zu wie die Großen.
„He, du!“ schrie der kleine, kugelrunde Tyrnowsky seinen Kameraden an. „Wo willst du mit der Pritsche hin? Mehr nach links! Sonst kommen wir nicht durch.“
Sie schleppten gerade ein Bettgestell aus dem Haus. Auf der Straße packten Jankel, Zigeuner und Japs unter Aufsicht von „Graf Schielauge“ die Sachen zusammen.
Graf Schielauge war Prophet, aber seine Jugend und sein kameradschaftliches Verhalten hatten ihn bei den Schkidern beliebt gemacht. Sein Spitzname stammte daher, daß er schielte.
Schon am ersten Tage hatte Schielauge die Zuneigung der Großen erobert.
Das war folgendermaßen geschehen.
Um die Schüler kennenzulernen, hatte er am Abend seiner Ankunft bei ihnen in ihrer Klasse gesessen und sich ausführlich darüber verbreitet, daß er ein guter Physiklehrer sei und experimentellen Unterricht geben wolle.
„Das ist fein“, hatte Japs begeistert gerufen. „Wir haben einen Haufen von Lehrmitteln. Die ganze Schrank steht voll.“ Dabei wies er auf den Schrank in der Ecke.
„Wo? Zeigt mal her!“ forschte Schielauge mit blitzenden Augen und stürzte auf den Schrank zu. „Er ist verschlossen.“ „Lassen Sie die Finger davon, Afanassi Wladimirowitsch! Vikniksor hat uns verboten, den Schrank aufzumachen.“
Die Jungen bekamen einen Schreck, als Schielauge sorglos lächelnd erklärte: „Zum Teufel mit den Verboten von Vikniksor. Wir machen den Schrank jetzt auf und sehen nach, was drin ist.“