„Lassen Sie das lieber sein!“
„Wenn Vikniksor uns erwischt, kriegen wir eins auf den Deckel.“ Doch Schielauge schraubte mit dem Taschenmesser den Riegel ab und öffnete den Schrank, ohne das Vorhängeschloß zu beschädigen. Er holte einen Dynamo heraus und erklärte eifrig, wie er funktioniere. In der Schule herrschte tiefe Stille.
Die Jungen aus den unteren Klassen schliefen bereits. Nur die paar Großen waren noch munter.
Sie hörten sich Schielauges Erklärungen zwar an, horchten dabei aber besorgt auf jedes Geräusch. Plötzlich klappte im Treppenhaus eine Tür. „Vikniksor! Den Apparat weg!“ „Schnell!“
Hastig steckten sie den Dynamo in den Schrank, schlössen die Tür, schraubten den Riegel notdürftig an und sprangen zurück. Da trat Vikniksor auch schon in die Klasse. Er machte seinen gewohnten Rundgang. „Ihr seid noch hier?“
„Ja, Viktor Nikolajewitsch. Wir unterhalten uns gerade über den morgigen Unterricht. Wir gehen jetzt schlafen.“ „Allerhöchste Zeit, Kinder.“
Vikniksor ging durch den Raum, kratzte sich hinter dem Ohr, fuhr mit dem Finger über die Bänke, um festzustellen, ob sie verstaubt seien, und trat gelassen an den Schrank. Den Jungen stockte der Atem. Besorgt hingen ihre Blicke an Vikniksors Händen, als er mechanisch das Schloß befühlte. Aber seine kurzsichtigen Augen übersahen die noch zur Hälfte herausragenden Schrauben, und er verließ den Raum. „Glatt gegangen!“ Alle atmeten erleichtert auf.
Als sie dann im Bett lagen, führte Zigeuner begeisterte Reden: „Schielauge ist doch ein verwegener Bursche! Mir wäre das Herz in die Hose gerutscht, er dagegen blieb ganz ungerührt.“ Nach dieser Episode hatte Schielauge das Vertrauen der Großen endgültig erobert. Er wurde von ihnen beinahe als Kamerad behandelt. Und jetzt packte er mit den Jungen fröhlich die Sachen. Zwischendurch machte die ganze Gesellschaft gelegentlich Pause, flegelte sich auf die Stufen der Eingangstreppe und hänselte die Passanten. „Vorsicht, Bürger! Hier ist eine Pfütze.“
„He, das ist die Pastetenverkäuferin ja schon wieder. Hau ab, sonst bringen wir dich zur Miliz“, rief Zigeuner.
Schielauge saß daneben, pfiff einen Walzer vor sich hin und blinzelte behaglich in die Sonne. Schließlich wurde es oben in der Schule still.
Alle Sachen, die während des Sommeraufenthalts gebraucht wurden, waren auf die Straße geschleppt. Nun konnte die Straßenbahn kommen.
Sie warteten den ganzen Tag. Vikniksor führte endlose, zornige Telefongespräche, aber der Personen- und der Güterwagen kamen erst spätabends, nachdem der Straßenbahnverkehr in der Stadt eingestellt war. Eilig luden sie auf, stiegen ein, und die Republik Schkid siedelte um. Am Narwa-tor mußten sie in eine kleine Vorortbahn mit Oberleitung umsteigen. Der Platz wurde knapp, und einige Jungen kletterten in den Güterwagen.
Die Räder summten, die Schienen knirschten, und die jungen Strolche fuhren weiter.
Im Güterwagen hockten die Großen. Über ihnen pfiff die Oberleitung, während die Holzhäuser der Vorstadt an ihnen vorüberzogen.
Die ganze Gesellschaft flegelte sich auf die Stufen.
Schon lag das letzte Gebäude am Stadtrand, das früher den eindrucksvollen, merkwürdigen Namen „Rote Schenke“ getragen hatte, hinter ihnen. Nun sausten sie durch grüne Felder.
In gleichmäßigen Abständen holperte die Bahn über die Schienenverbände. Pausenlos raste sie weiter.
Die Schkider fühlten sich so wohl, daß sie Lust zum Singen bekamen. Das Gelächter verstummte, und zum gleichmäßigen Rattern der Räder stimmte einer an:
Spatz war es, der da sang. Sein schwermütiges, stilles, getragenes Lied ging im Geratter unter.
Langsam strömte die Melodie dahin. Jankel war ernst geworden. Er stimmte ein, und auch Zigeuner sang mit.
Auch die Gespräche der anderen Jungen waren verstummt. Selbst Japs, der unverwüstliche Radaubruder, drückte sich in eine Ecke und sang hingerissen, wenn auch nicht gerade wohltönend, mit.
Die Felder flogen an der niedrigen Brüstung des Güterwagens vorüber, manchmal blitzte ein erleuchtetes Fenster auf, dann waren wieder nur Weite und Nebel ringsum.
Nun aber Schluß mit der Schwermut! Jankel sprang auf und übergrölte Spatzens leisen Tenor:
Ein Dutzendstimmen fiel ein und übertönte dasGeratter der Bahn. Das wilde Gebrüll zerriß die Luft, und Fetzen der Melodie sprangen über Felder, Häuser und Wälder.
„Das ist ein Lied!“
„So singt man in der Schkid!“
Langsam kroch die Bahn einen Berg hinauf.
Vom Personenwagen schrie Elanljum etwas herüber, aber die Jungen hörten sie nicht.
Ihr rotblondes Haar flatterte im Wind. Sie fuchtelte mit den Händen, aber der Wind trug ihre Worte davon. Schließlich begriffen die Jungen.
Sie waren kurz vor Strelna.
Als die Bahn hielt, reckte Jankel den Hals, sprang auf und johlte: „Leute! Ein Kloster! Ein richtiges Kloster!“
„Na, und?“
„Frag doch nicht so dumm. Ein Jahr hab' ich in einem Kloster gewohnt, ein ganzes Jahr!“ Jankel war tief gerührt. Als er aber sah, daß seine Kameraden nur mit spöttischer Skepsis reagierten, winkte er enttäuscht ab.
„Geht zum Teufel. Ihr habt keine Ahnung. Ein Kloster hat doch einen Friedhof mit Gräbern. Das ist schön. Überall Kreuze.“ „Und kleine Leichen!“ ergänzte Japs.
„Mit Knöchelchen und Schädelchen“, sekundierte Zigeuner. Er fand den sentimentalen Jankel reichlich komisch. Wütend spuckte Jankel aus. „Wir sind da!“
„Jungen, ladet bitte möglichst schnell das Gepäck ab. Es ist schon spät!“ rief Elanljum, während die Schkider schon eifrig dabei waren. Sie wollten alles schleunigst hinter sich haben, um ihren neuen Besitz noch in Augenschein nehmen zu können.
Ihre glattgeschorenen Anstaltsköpfe träumten insgeheim schon von dem fernen Herbst und den verführerischen Kartoff ein aus denStrelna-Gärten. Aber als erstes wollten sie die Umgebung kennenlernen.
Doch daraus wurde nichts. Bis in die Nacht hinein mußten die Jungen die Sachen ins Haus schleppen und auspacken.
Als der Morgen graute, wurden den verschiedenen Klassen die Schlafräume zugewiesen. Die Jungen stellten notdürftig die Eisenbetten auf und sanken sofort in tiefen Schlaf.