Mein altes Arbeitsverhältnis kann ich innerhalb von vier Wochen auflösen und bereits am 1. Oktober 1993 beginne ich den dritten Job seit meiner Rückkehr. Ich bin hoch motiviert, da mir die Arbeit mit den neuen Möglichkeiten großen Spaß macht und ich mich mit dem Chef gut verstehe. Vor allem die gestickten Firmen-Logos finden erfreulichen Absatz. Auch von meiner vorherigen Kundschaft kann ich dabei profitieren und verkaufe zum Teil sensationelle Stückzahlen. Keine Minute bereue ich den Stellenwechsel und stelle mit Genugtuung fest, dass mich bisher jeder neue Arbeitsplatz nur weitergebracht hat.
Eines Abends im November finde ich einen Abholschein von der Post vor. In dem Einschreiben befindet sich eine Vorladung zu einem Gerichtstermin, bei dem meine Ehescheidung verhandelt werden soll. Jetzt, da ich es schwarz auf weiß vor mir sehe, kommt es mir doch recht seltsam vor. Ich werde wahrscheinlich von einem Mann geschieden, der davon keine Ahnung hat. Die Verhandlung soll am 30. November 1993 um 17.00 Uhr stattfinden. Persönliches Erscheinen, mit oder ohne Vertreter, wird vorausgesetzt.
Oh Gott, ich habe keinen Anwalt! Brauche ich einen?, frage ich mich selbst. Oder soll ich meine Mutter oder gar Madeleine bitten mitzukommen? Aber dann entscheide ich mich, allein zu gehen, da nur ich die ganze Geschichte wirklich kenne. Meine Schlagfertigkeit ist in den Jahren im Außendienst gut geschult worden und mein gestärktes Selbstbewusstsein ist mit dem der ersten Monaten nach meiner Rückkehr aus Kenia, in denen ich mich nicht einmal mehr auf die Straße traute, nicht zu vergleichen.
Am besagten Tag nehme ich meine beiden Lohnabrechnungen mit, damit ersichtlich ist, dass ich uns beide gut ernähren kann, und eine Liste über meine Lebenshaltungskosten sowie ein paar Fotos von meinem Mann und unserem damaligen Leben. Da ich noch nie in einem Gerichtsgebäude war, beschleicht mich nun doch ein beklemmendes Gefühl. Vor mehreren Türen warten jeweils kleinere und größere Menschengruppen, die sich meist um einen Anwalt in Robe scharen. Als einzelne Person mit meinem dünnen Aktenmäppchen komme ich mir etwas verloren vor. Als ich aufgerufen werde, betrete ich gespannt den Raum, in dem bereits vier Personen warten. Ich setze mich auf die Bank vor den Richter. Erst werden die Personalien geklärt und dann muss ich mein Leben mit Lketinga in Kurzfassung erzählen.
Da mir schnell klar ist, dass sich der Richter unter dem Stamm meines Mannes nichts vorstellen kann, frage ich am Ende meiner Erzählungen, ob ich ihm zum besseren Verständnis ein paar Fotos vorlegen solle. Nach kurzem Zögern willigt er ein. Ich lege ihm sechs Bilder auf das Pult. Eines zeigt meinen Mann in Kriegsbemalung mit Speer, ein anderes eine Ochsenschlachtung vor der Manyatta und ein drittes uns beide mit unserer Tochter Napirai. Er räuspert sich und fragt ungläubig: »Dies ist also Ihr Mann?« Die anderen Damen und Herren stehen auf und kommen zum Tisch, um sich ebenfalls die Fotos anzuschauen. Es entsteht eine kurze Diskussion zwischen ihnen und dann fragt mich der Richter, ob er die Fotos bis zur endgültigen Entscheidung zu den Akten nehmen dürfe. Ich bin einverstanden und werde bis zur nächsten Vorladung entlassen. Als ich das Gebäude verlasse, fühle ich mich schon etwas befreiter.
Zwei Wochen später, also Mitte Dezember, erhalte ich die nächste Vorladung. Jetzt wird es ernst. Dieselben Personen erwarten mich. Erneut werde ich gefragt, ob ich nichts von meinem Ehemann gehört habe und nach wie vor seinen genauen Aufenthaltsort nicht kenne. Ich antworte unter Eid, dass ich bis zum heutigen Tag keine zusätzlichen Angaben machen kann. Dann werde ich gefragt, ob ich auf Unterhaltszahlungen klagen möchte, was ich verneine. Zum Schluss verliest der Richter, dass unter den gegebenen Umständen die Ehe der Parteien zu scheiden sei mit folgenden Nebenregelungen: Die aus dieser Ehe hervorgegangene Tochter Napirai wird unter die elterliche Gewalt — was für ein hässliches Wort! — der Mutter gestellt. Es wird vermerkt, dass die Mutter auf Unterhaltsbeiträge verzichtet. Es wird ebenfalls festgehalten, dass die scheidenden Parteien keine Ansprüche aneinander stellen. Es folgen die Kostenfestsetzung des Prozesses sowie die Anweisung, dass das Urteil für Lketinga im hiesigen Amtsblatt veröffentlicht werden muss. Wie absurd!
Zuletzt höre ich nur noch, falls in den nächsten zehn Tagen von den Parteien kein Einspruch erfolge, sei das Urteil rechtsgültig. Mir schwirrt der Kopf und ich stehe etwas hilflos da, als die vier ihre Unterlagen zusammenräumen. Unsicher frage ich: »Ja, bin ich nun geschieden? Ist jetzt wirklich alles vorbei? Kann ich gehen oder muss ich irgendwo etwas abholen oder bezahlen?« Der Bezirksrichter nickt kurz und ist verschwunden. Langsam gehe ich aus dem Raum und kann kaum glauben, dass alles so einfach über die Bühne gegangen ist.
Allmählich wird mir klar, dass dies der Tatsache zu verdanken ist, dass Lketinga sozusagen verschollen ist. Erst draußen in der Dezemberkälte überkommt mich eine große Freude, dass mir Napirai niemand mehr wegnehmen kann, solange ich nicht nach Kenia reise. Sofort fahre ich zu meiner Mutter, die sich mit mir freut und uns zum Abendessen einlädt.
Erinnerungen holen mich ein
Kurz vor Weihnachten erhalte ich meine Lohnabrechnung für Dezember. Inklusive Weihnachtsgeld ist es eine sehr erfreuliche Summe. Jetzt könnte ich mir mit Napirai wirklich einmal wunderschöne Ferien leisten, überlege ich kurz und mache mich gleich auf den Weg in ein Reisebüro. Ich möchte in ein Land fliegen, in dem es jetzt sonnig und warm ist und in dem keine Malaria-Gefahr besteht. Nach einigen Beratungen entscheide ich mich für einen Flug in die Dominikanische Republik. Ich freue mich darauf, zwei Wochen verwöhnt zu werden und das Zusammensein mit meiner Tochter in vollen Zügen zu genießen, mit ihr zu essen, wonach uns gerade ist, und so lange wie möglich im Meer zu plantschen. Wie Napirai wohl reagieren wird, wenn sie wieder von vielen schwarzen Menschen umgeben ist? Ob sie sich dann an ihren Papa erinnert?
Noch vor unserer Abreise bekomme ich einen Brief aus Barsaloi. James entschuldigt sich, dass er so lange nicht geschrieben hat, aber sie hätten schwere Zeiten gehabt. Erst wären bei den fürchterlichen Kämpfen gegen die Rebellen, die ihnen fast alle Tiere gestohlen haben, viele Menschen umgekommen. Und jetzt hätte es endlich geregnet, aber Barsaloi sei nun voll von Moskitos. Malaria zu bekommen, sei nur eine Frage der Zeit. Er habe eine Anstellung in der neuen Schule in Barsaloi erhalten und sei glücklich über die Arbeit. Im Moment aber kämen nicht viele Kinder zur Schule, da wegen der Malaria schon einige gestorben sind. Auch in dem kleinen »Barsaloi-Hospital« hätte es Malaria-Tote gegeben. Dennoch sei er froh, dass er überhaupt Arbeit gefunden hat und die Kämpfe nun vorbei sind. Allerdings sei alles viel teurer geworden. Kleider, Reis, Zucker, selbst Mais seien zehnmal teurer als noch zu meiner Zeit. Unglaublich! Er möchte jetzt im Dezember nach Mombasa reisen, um nach Lketinga zu sehen. Sobald er Neuigkeiten habe, wird er wieder schreiben.
Zum einen bin ich sehr froh über diesen Brief, denn ich hatte lange nichts mehr gehört, zum anderen mache ich mir Sorgen um meine ehemalige Familie, weil ihr Leben im Moment besonders schwer zu sein scheint. Ich erinnere mich an meine eigenen schrecklichen Malaria-Attacken. Durch die ständigen Wechsel von Fieberanfällen und Schüttelfrost ist man innerhalb kürzester Zeit ein Wrack. Zudem hat man Durchfall und muss sich trotz leeren Magens unaufhörlich übergeben, bis man nur noch apathisch und kraftlos im Bett liegt. Mein Gott, ich wünsche diese Krankheit niemandem und hoffe, dass es in Barsaloi bald ein Ende dieser Plage geben wird. Außerdem bin ich gespannt, ob James Lketinga in Mombasa finden wird und was er im nächsten Brief von ihm zu berichten weiß. Immerhin habe ich seit mehr als drei Jahren nichts mehr von ihm erfahren.