An den Lesungen nehmen überwiegend Frauen jeden Alters oder Paare teil. Mir fällt auf, dass das Publikum je nach Region sehr unterschiedlich ist. Einmal ist von Anfang an eine erwartungsvolle Spannung da, ein anderes Mal müssen die Zuhörer erst »auftauen«. Wenn es recht unruhig ist, weiß ich, dass im Publikum Leute sitzen, die mich später in der Diskussion verbal angreifen werden. Mir ist durchaus klar, dass das Buch nicht jedem gefallen kann, und eine Doktorarbeit in Germanistik habe ich auch nicht abgelegt. Ich schrieb mir meine Erlebnisse zwischen Vollzeitarbeit und der Erziehung meiner Tochter nachts vom Herzen und freue mich nun, dass so viele Menschen dabei etwas Positives für sich gewinnen können. Beim Signieren kommen Frauen an meinen Tisch, strahlen mich mit leuchtenden Augen an, drücken mir die Hand und sagen: »Frau Hofmann, vielen Dank für diesen wunderschönen Abend! Es war für mich der aufregendste Moment in meinem Leben.« Bei solchen Aussagen verschlägt es mir die Sprache, denn dieses Kompliment scheint mir in keinem Verhältnis zu meiner Lesung zu stehen. Außerdem macht es mich nachdenklich und fast traurig, dass ein solcher Moment in einem vielleicht 60jährigen Leben das Schönste gewesen sein soll. Aber solche oder ähnliche Aussagen höre ich noch einige Male.
Einmal sitze ich bei einer Signierstunde in einem Kaufhaus, als eine Dame mittleren Alters freudig auf mich zukommt und mich bittet, sie anzuschauen, während sie vor meinem Tisch hin und her läuft. Ich staune und weiß nicht recht, was das soll. Sie sagt immer wieder: »Sehen Sie, Frau Hofmann, sehen Sie, das habe ich Ihnen zu verdanken!« Ich verstehe nicht, was sie meint, und zweifle schon ein wenig an ihrem Verstand. Dann kommt sie wieder zu mir, hält meine Hände ganz fest, schaut mich an und sagt: »Bis vor kurzem saß ich im Rollstuhl und konnte eigentlich nicht mehr laufen. Dann habe ich Ihr Buch gelesen. Ihr starker Wille hat mich sehr beeindruckt und ich habe mir gesagt, wenn diese Frau an einer Malaria fast gestorben ist und sich aufraffen konnte, wieder zu gehen, dann kann ich das auch! Und sehen Sie, nach Jahren laufe ich wieder!« Dabei geht sie wieder hin und her. Dieser Moment ergreift mich so sehr, dass mir Tränen in die Augen schießen und ich nur noch sagen kann: »Allein für Sie hat sich das Schreiben des Buches gelohnt!« Sie legt mir einen wunderschönen Blumenstrauß auf den Tisch und verabschiedet sich mit einem langen Blick von mir. Danach bin ich völlig durcheinander und kann mich kaum noch auf die anderen Leute konzentrieren. Zum ersten Mal bin ich froh, dass ich mich zurückziehen kann. Dieses Erlebnis rufe ich mir immer vor Augen, wenn ich bösartige Kritik einstecken muss.
Wenn ich dann freitags nach Hause komme, freue ich mich irrsinnig auf meine mittlerweile zehnjährige Tochter. Nach der langen Trennung fliegt sie mir förmlich in die Arme und freut sich, wieder einmal bei mir im Bett zu schlafen. Am Wochenende lese ich die Briefe, die ich von meinen Leserinnen und Lesern erhalte, und versuche, so viele wie möglich zu beantworten. Von Woche zu Woche werden es mehr. Es überrascht mich, wie viel mir die Menschen anvertrauen oder was ich bei ihnen ausgelöst habe.
Viele bedanken sich persönlich bei mir und schreiben, dass sie die Schilderung meiner vier Jahre mit Lketinga als sehr ehrlich und berührend empfunden haben. Manche berichten auch von ihren eigenen guten wie schlechten Erlebnissen. Einige Frauen und auch Männer, die selbst eine Liebesbeziehung mit einem Partner aus einer anderen Kultur erleben, fragen mich um Rat, wie sie sich verhalten sollen. Ihnen kann ich nur antworten: »Wenn Sie sich Ihrer Sache tief in Ihrem Inneren nicht ganz sicher sind und eines Rats bedürfen, läuft schon etwas falsch. Mich hätte damals kein noch so gut gemeinter Ratschlag davon abgehalten, der Stimme meines Gefühls zu folgen.«
Natürlich bekomme ich auch kritische oder sogar feindselige Briefe. Doch der meist gebrauchte Satz in den Leserzuschriften lautet in etwa: »Ich habe Ihr Buch gelesen, nein regelrecht verschlungen. Ich bin überwältigt, fasziniert und ich bewundere Ihre Stärke.« Viele schildern, wie sie das, was sie gelesen haben, förmlich selbst durchlebt haben. Und nahezu alle fragen danach, wie es Lketinga, Napirai und mir heute geht und wie unser Leben weitergegangen ist.
Da ich persönlich noch nie auf den Gedanken gekommen bin, einem Autor oder einer Autorin zu schreiben, bin ich über diese vielen Reaktionen mehr als überrascht. Fast ist es mir ein wenig unheimlich, vor allem aber bin ich sehr gerührt.
In einer der kommenden Wochen habe ich in der Schweiz eine Lesung und eine Signierstunde. Diese findet ausnahmsweise in einem Reisebüro statt, das sechzig meiner Bücher verschenken möchte. Als ich dort erscheine, drängt sich wieder eine Menschentraube bis weit auf den Gehweg hinaus. Ich beginne gleich mit dem Signieren und unterhalte mich dabei angeregt mit den Kunden. Nach einer guten halben Stunde kommt der Geschäftsführer und fragt mich, ob ich die Leute da draußen, die ein Spruchband zur Unterstützung ihrer Demonstration gegen mich hochhalten, kenne. Ich verstehe nicht, wovon er spricht, weil ich durch die wartende Menschenmenge nicht bis zur Straße blicken kann. Als alle Bücher ihre neuen Besitzer gefunden haben, gehe ich hinaus, um mir die Demonstranten anzusehen. Ich bin mehr als überrascht, als ich vier schwarze Frauen sowie zwei weiße Männer sehe. Die Männer halten das Spruchband hoch, auf dem zu lesen ist, dass ich die afrikanische Kultur beleidige. Da ich das Ganze nicht verstehe, versuche ich mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Ich möchte sie mit einem Händeschütteln begrüßen, doch das gefällt ihnen überhaupt nicht, stattdessen schreien oder besser gesagt kreischen sie mich auf Englisch an.
Nochmals versuche ich ganz ruhig zu erfahren, was ihr Anliegen ist. Ob ich denn nicht lesen könne?, bekomme ich zu hören. In meinem Buch würde ich nicht die Wahrheit schreiben. Ich frage erneut, worauf sie anspielen wollen, und wende mich an einen der beiden Männer. Der aber scheint nur Spruchbandträger zu sein und gibt mir per Kopfnicken zu verstehen, dass die lautstarken und sich auf die Brust trommelnden Afrikanerinnen für diese Frage zuständig seien. Dann schreit die eine erneut, ich beleidige ihr Volk. Ich würde schreiben, die Samburu seien dumm und unzivilisiert, und würde den Unterschied zwischen Massai und Samburu nicht kennen. Mir kommt das alles sehr suspekt vor, denn ich konnte gleich erkennen, dass diese Frauen weder den Massai noch den verwandten Samburu angehören. Als ich sie nach ihrer Stammeszugehörigkeit frage, erwidern sie aggressiv, sie seien Kenianerinnen und was in meinem Buch stehe, stimme nicht. Doch worum es ihnen genau geht, sagt keine. Ich wundere mich nur, wie diese Menschen auf solch eine Behauptung kommen. Ich habe in Kenia genau so gelebt, wie ich es niedergeschrieben habe, und hatte nie das Gefühl, das Volk meines Mannes zu beleidigen. Als ich feststellen muss, dass alles nichts nützt und diese Frauen anscheinend nur etwas Aufmerksamkeit erregen möchten, breche ich den Versuch, ein vernünftiges Gespräch zu führen, ab. Allerdings beschäftigt mich diese Begegnung noch einige Tage, weil ich einfach nicht dahinter komme, was diese Leute von mir wollen. Auch mein Verleger ist ziemlich ratlos.
Mir fällt die Kartenlegerin ein, der ich sowieso schon seit langem ein Buch vorbeibringen wollte. Schließlich hatte sie ja so Recht mit ihrer Vorhersage des Erfolges. Ich rufe an und kann noch am gleichen Tag vorbeikommen, da ich am nächsten Tag meine zweite Lesung in Bern abhalte und anschließend wieder nach Deutschland reisen werde. Vorher will ich unbedingt erfahren, was sie mir zu dem Vorfall mit den Afrikanerinnen sagen kann. Ich betrete das winzige Häuschen mit den vielen Zwergen und wieder setzt sich sofort die Katze auf meinen Schoß. Die Kartenlegerin kann sich nicht mehr an mich erinnern. Erst als ich ihr das Buch überreiche, sagt sie: »Ach Sie sind das! Ich habe von Ihrer Geschichte gelesen, wusste aber nicht, dass Sie schon einmal bei mir waren.« Dann mischt sie die Karten und ich ziehe wie beim ersten Mal. Wieder beschreibt sie den Erfolg des Buches, der sich noch weiter fortsetzen wird. Doch schon bald bemerkt sie, dass da wohl auch einige Probleme aufgetaucht sind. Nun erzähle ich ihr von den Kenianerinnen. Sie legt erneut die Karten und erklärt: »Sie müssen gut auf sich aufpassen, das sind neidische Leute, die nur Geld aus Ihnen herausholen wollen und die geben nicht so schnell auf. Seien Sie wachsam, schon allein wegen Ihrer Tochter.« Mir wird ganz elend bei dem Gedanken, dass eventuell Napirai mit hineingezogen werden könnte. »Es ist noch nicht kritisch, aber Sie müssen aufpassen. Sie haben viele Neider und es werden noch mehr.«