Tatsächlich wird das Wetter wieder besser und nach einer kurzen Wanderung stehen die großen, bizarren Felsen des Lava Towers vor uns. Der Führer gratuliert jedem zum Erreichen der 4.600-Meter-Marke. Endlich geht es mir besser und ich verspüre so etwas wie Euphorie, verbunden mit der Zuversicht, dass dieses Abenteuer doch noch auf den Gipfel führen könnte. Nach einer kurzen Fotopause beginnen wir den Abstieg. Hinunter läuft es sich in dieser Höhe natürlich dreimal schneller. Bald schon führt uns der Weg durch wunderschöne Lobelien und Senecien. Diese Pflanzen wachsen zwischen den dunklen Steinen mehrere Meter in die Höhe und passen irgendwie nicht hierher. Manchmal sehen sie in der Ferne fast wie ein Palmengarten aus. Je weiter wir absteigen, desto mehr beleben Erikagewächse wie silberweiße Tupfen den dunklen Steinboden.

Kurz vor vier Uhr blicken wir von oben auf unser Camp hinunter. An den verschiedenfarbigen Zelteinheiten erkennt man die jeweiligen Gruppen. Außer uns sind noch zwei weitere unterhalb des Kilimandscharo-Südgletschers auf 3.950 Meter angekommen. Es ist sehr kühl. Im Küchenzelt herrscht emsiges Treiben. Immer wenn wir im Camp ankommen, steht alles schon bereit. Jeder hat sein eigenes Zelt und darin befindet sich die jeweilige Reisetasche. Wir treffen wieder auf Franz, dem es nach wie vor nicht gut geht. Er hat Fieber und überlegt, ob er sich auf der Safari eventuell eine Malaria geholt haben könnte, da er keine Prophylaxe eingenommen hat. Doch mit meinen früheren Malaria-Erfahrungen decken sich seine Symptome längst nicht, was einigermaßen beruhigend ist. Hans hat durch den schnellen Abstieg noch stärkere Kopfschmerzen bekommen, möchte aber keine Tabletten nehmen.

Zum wiederholten Mal stelle ich mein Handy an und bemerke nun hocherfreut, dass ich hier Empfang habe. Sofort melde ich mich bei meinen Lieben zu Hause. Endlich höre ich Markus' Stimme. Als er besorgt nachfragt, wie es mir denn bis jetzt ergangen ist, schießen die Tränen aus meinen Augen. Erschrocken über meine Reaktion antworte ich, dass es mir körperlich ganz gut geht, ich mich aber irgendwie fehl am Platze fühle. Das Reisen in Gruppen kenne ich nicht und habe mir das völlig anders vorgestellt. Außerdem zweifle ich an meiner Kondition. Markus versucht mich aufzumuntern und als ich höre, dass mit Napirai alles bestens läuft, werde ich ruhiger. Kurz darauf habe ich sie selbst am Telefon. Sie meint locker: »Mama, mach dir keine Gedanken, du schaffst das schon, und hier ist eh alles in Ordnung!« Ich merke, wie mein Herz schmilzt, und gleichzeitig spüre ich intensiv, dass diese zwei Menschen das Wichtigste in meinem Leben sind.

Das Telefonat hat mir viel Kraft gegeben. Endlich kann ich wieder lachen. Selbst der Führer merkt, dass es mir seelisch viel besser geht. Pessimistische und depressive Phasen sind mir eigentlich fremd. Mir ist auch nicht klar, was die Ursache war: Die ungewohnte Höhe, die Tabletten gegen die Menstruation oder gegen die Malaria oder einfach diese ganze komische Gruppensituation. Nur beim Abendessen kann ich noch nicht mit Appetit zulangen, obwohl ich auch diesmal staune, was die Köche auf den Tisch zaubern: Von einer köstlichen Tomatensuppe bis hin zu Pasta mit frischem Gemüse oder wunderbarem Curryreis mit Fleisch. Ich habe nur ein großes Verlangen nach rohen Karotten und bekomme diese auch sofort mit Orangenscheiben liebevoll dekoriert. Beim Essen erklärt uns Franz, falls es ihm bis morgen gesundheitlich nicht besser gehe, denke er daran, die Tour zu beenden. Er merke beim Marschieren, dass seine Beine immer wackliger werden. Heute sei er schon des Öfteren über Steine gestolpert. Wir würden es alle bedauern, denn er und sein Sohn geben immer wieder Anlass zum Schmunzeln. Nach einem erneuten Klogang erklärt das junge Paar, sie würden sich nie an diese Art von Toiletten gewöhnen. Der Rentner schreibt mehr Tagebuch, als dass er sich an einer Konversation beteiligt. Immerhin habe ich erfahren, dass er ein pensionierter Zahnarzt ist. Ich vermute, das ist der Grund für seine Aversion gegen mich. Vielleicht riecht er ja die frühere Vertreterin an mir.

Einer der Hilfsführer erwähnt die Möglichkeit, die Route etwas abzukürzen, um unsere Chance zu erhöhen, auf den Gipfel zu gelangen. Das setzt allerdings voraus, dass wir übermorgen statt zur Kibohütte ins Barafu Camp marschieren. Wir würden dadurch Kräfte sparen und könnten uns schon am Nachmittag ausruhen. Der Nachteil wäre nur, dass wir den Gilmans Point, der schon als Besteigung gilt, nicht passieren könnten. Wenn wir ein Foto und ein Zertifikat wünschten, wäre dies nur auf dem direkten Weg zum Uhuru Peak möglich. Alle sind mit diesem Vorschlag einverstanden, außer mir. Ich hätte schon gerne ein Foto und Zertifikat und glaube auch, dass ich bis zum Gilmans Point durchkäme, aber für einen weiteren Aufstieg wage ich noch keine Prognose. Wir diskutieren hin und her und schließlich bleibt es vorläufig bei unserer gebuchten Route. Die letzte Möglichkeit dies zu ändern besteht morgen Abend. Ich brauche noch Bedenkzeit. Alle kriechen in ihre Zelte und warten auf den erlösenden Schlaf.

Schon vor sechs Uhr bin ich wach. Draußen ist es klar und der Kilimandscharo-Gipfel scheint zum Greifen nahe. Wir befinden uns direkt darunter. Wieder habe ich den Eindruck, als sei Farbe oder Milch über den Kopf des Berges geschüttet worden. Er sieht so ganz und gar anders aus als unsere Schweizer Schnee- und Gletscherberge. Wahrscheinlich liegt es daran, dass er ein Vulkan ist. Heute fühle ich mich stark und ausgeruht und freue mich richtig aufs Weiterwandern. Wieder steht ein Akklimatisationstag bevor und deshalb werden wir durch verschiedene kleinere Täler hinauf- und hinuntersteigen. Beim Frühstück teilt uns Franz endgültig mit, dass er, begleitet von einem Hilfsführer, umkehren wird. Er hat gemerkt, dass der Gipfel für ihn nicht zu erreichen ist, und möchte nichts mehr riskieren. Er will in unsere Ankunftslodge zurückkehren und eventuell eine Safari zum Ngorongoro Krater buchen. Für seinen Sohn Hans ergibt sich daraus der Vorteil, dass er nun zwei Schlafsäcke zur Verfügung hat und so die Nächte besser durchstehen kann. Vor unserem Abmarsch machen wir noch ein letztes gemeinsames Foto mit der gesamten Mannschaft, da nun auch von den Führern ein Teil zurückgehen muss.

Wir marschieren los und lassen die letzten palmenartigen Senecien hinter uns. Schon bald führt der Weg in die Felsen hinein und wir klettern zum Teil mit Händen und Füßen langsam nach oben. Die Stöcke sind wieder einmal eher hinderlich. Ansonsten gefällt mir diese Kraxelei sehr gut, weil es eine schöne Abwechslung ist. Nun habe ich auch keine Zeit mehr, ständig in mich hineinzuhören, ob es mir noch gut geht. Wieder zieht die Trägerkolonne an uns vorbei. Heute staune ich noch mehr über ihre Künste, wie sie sich, die schweren Lasten auf dem Kopf balancierend, geschickt in diesem steilen und felsigen Gelände bewegen. Sie können, im Gegensatz zu uns, die Hände nicht zur Hilfe nehmen, da sie damit ihre Körbe, Taschen oder Pfannen festhalten. Außerdem sind sie fast doppelt so schnell wie wir. Wir lassen sie passieren und ich studiere ihre Ausrüstung. Einige haben viel zu große Schuhe an den Füßen und andere offene Schuhbänder. Am Rucksack haben sie die rohen Eier in einem dünnen Pappkarton befestigt. Damit müssen sie sich durch Felsen zwängen, durch die wir kaum mit unserem Tagesrucksack passen. Ich möchte nicht wissen, was ihnen geschähe, wenn die Eier im Camp kaputt eintreffen würden. Bei diesen Gedanken steht für mich fest, dass ich allen Trägern zusätzlich ein schönes Trinkgeld geben werde. Sie sind für mich die wahren Helden am Kilimandscharo.

Nach einer längeren Pause auf einer Anhöhe von 4.250 Meter geht es nach einer kurzen Geraden in ein Tal hinunter und auf der anderen Seite erneut hoch. Dies wiederholt sich noch einige Male. Hans und mir gefällt es sehr gut und wir sind voller Tatendrang. Die anderen sind nach einiger Zeit etwas enttäuscht, weil sie nicht auf diese vielen Auf- und Abstiege eingestellt waren. Ab und zu unterhalte ich mich mit Hans. Er will immer noch nicht begreifen, warum sein Vater die Gruppe verlassen hat. Etwas vorwurfsvoll sagt er: »Schließlich waren es ja seine Idee und seine Besessenheit, diesen Berg zu besteigen. Und weil er niemand anderen begeistern konnte, musste ich, der Sohn, unbedingt mit. Nun quäle ich mich auf einen fast 6.000 Meter hohen Berg, auf den ich nie wollte, während mein Vater locker zu einer Safari fährt.« Über seine trockene, nüchterne Art muss ich immer wieder lachen. Seit er ebenfalls allein ist, kommen wir häufiger ins Gespräch.


Перейти на страницу:
Изменить размер шрифта: