Nach guten viereinhalb Stunden Laufzeit erreichen wir das Karanga Camp gerade noch rechtzeitig, um uns vor dem ersten richtigen Regenschauer in unsere Zelte zu flüchten. Das Wetter wechselt hier oben ständig. Einmal ist es richtig warm und kurz darauf ziehen Nebel auf und man ist froh, noch eine Jacke oder einen Pulli dabei zu haben. Vom Kilimandscharo sehen wir im Moment nichts, er bleibt im Nebel und Regen versteckt. Die Trägermannschaft verkriecht sich ins Essens- und Küchenzelt. Ich freue mich, dass ich wieder eine Handy-Verbindung zur Schweiz habe, und sende einige SMS an Napirai und Markus, die freudig und erleichtert beantwortet werden. Da noch viel Zeit bis zum Abendbrot bleibt, beginne ich ein Buch zu lesen, das mir meine Mutter mitgegeben hat. Es fesselt mich vom ersten Moment an. Darin beschreibt eine Frau, wie sie mit dem Fahrrad durch China, Nepal und Indien gereist ist. Sie fuhr unter anderem auf über 5.000 Meter hohe Berge, wobei ihr Rad in Schnee und Eis eingefroren ist. Während ich die Bilder betrachte, wächst in mir die Sicherheit, dass unser Ziel wesentlich leichter zu erreichen sein sollte. Nach zwei Stunden krieche ich aus dem Zelt und freue mich, dass die Sonne wieder scheint. Die Mannschaft wäscht sich in der Abendsonne. Dafür warten wir heute vergeblich auf unser Waschwasser. Ich behelfe mich mit Feuchtigkeitstüchern und kann mir das Erfrischungsspray von Petra ausleihen. Ihre Ausrüstung die Hygiene betreffend ist wirklich erstaunlich. Dafür habe ich allerdings einige schwarze Ränder unter den langen Fingernägeln, die sich mit dem spärlichen Wasser eben nicht besser pflegen lassen. Überhaupt sehen meine Hände mit den zum Teil abgebrochenen Fingernägeln aus, als hätte ich, wie damals in Barsaloi, Kochtöpfe ausgekratzt.

Nachdem die Sonne scheint, taucht auch der Kilimandscharo wieder aus dem Nebel auf. Hans und ich nutzen die Gelegenheit und wir machen von uns gegenseitig ein paar schöne Fotos mit dem eindrucksvollen Berg im Hintergrund. Wieder frage ich mich, ob überhaupt jemand und wer von uns da oben ankommen wird. Plötzlich habe ich das Gefühl, dass ich doch mit der Routenänderung einverstanden sein sollte. Ich möchte nicht, dass meinetwegen vielleicht jemand nicht auf dem Gipfel ankommt. Zudem wäre es dann für mich ein »Muss«, bis zum Uhuru Peak durchzuhalten. Beim Essen gebe ich meine Zustimmung bekannt und sofort sind alle erfreut. Am glücklichsten sind, wie ich später von einem Hilfsführer höre, die Träger, da sie unsere Lasten weniger weit schleppen müssen.

Am nächsten Morgen stehen wir bei schönstem Sonnenschein auf. Der Kilimandscharo ist in der Nacht, wie mir scheint, noch näher gerückt. Ich habe nicht den Eindruck, dass wir noch fast 2.000 Höhenmeter vom Gipfel getrennt sind. Zum Frühstück gibt es unter anderem wieder herrliche Pfannkuchen, getoastete Brotscheiben und Wassermelone. Ich esse viel, weil ich endlich wieder richtig Hunger verspüre. Außerdem liegen ein anstrengender Tag und die Nacht, in der der Gipfelsturm vorgesehen ist, vor uns.

Bis zum Barafu Camp sind etwa 600 Höhenmeter zu überwinden. Zu Beginn geht es gemächlich los. Hier enden allmählich die letzten Pflanzenspuren und wir wandern nur noch durch Lavasteine unterschiedlichster Größe. Einzelne Wegabschnitte sehen wie angehäufte grau-schwarze Tonscherben aus. Alles Leben scheint hier oben abgestorben zu sein, wie in einer Mondlandschaft. Nur zwei Mal beobachte ich, wie sich eine kleine schwarze Spinne vor unseren Füßen in Sicherheit bringt. In weiter Ferne sehen wir die Träger die letzte Anhöhe vor unserem angestrebten Camp aufsteigen. Mir schwant Böses. Tatsächlich gibt uns der letzte, sehr steile Aufstieg einen Vorgeschmack auf die heutige Nacht! Immer wieder müssen wir Pausen einlegen, wenn wir das Gefühl haben, dass nichts mehr geht. Ich bin froh, permanent an meinem Trinkschlauch saugen zu können, um wenigstens gegen das Durstgefühl anzugehen. Mit enormem Energieverbrauch schleppen wir uns nach drei Marschstunden und guten 600 überwundenen Höhenmetern in das auf 4.540 Meter gelegene Camp. Es ist das steinigste, windigste und vor allem auch das dreckigste von allen. Die Träger haben unsere Zelte zu weit unten aufgestellt und springen nun vor uns her, um die neuen Plätze vor unserer Ankunft hergerichtet zu haben. Mir ist nicht klar, wie die Männer es schaffen, in dieser Höhe noch von Stein zu Stein zu hüpfen, während sie das aufgespannte Igluzelt, gegen den Wind ankämpfend, vor sich hertragen. Erschöpft stapfen wir zu unseren Plätzen, um neben dem Zelt ausruhen zu können. Im Lager befinden sich die Leute, die heute früh vom Gipfel zurückgekommen sind. Ein sportliches Paar sitzt völlig fertig auf einem Felsen. Ich frage nach, wie es ihnen ergangen ist und ob sie oben waren. Als Antwort erhalte ich nur ein Nicken und die Worte: »Sehr anstrengend.« Dann entdecken wir noch einen älteren Herrn, der erst jetzt, also kurz vor halb eins, von oben heruntergetorkelt kommt. Bei uns in der Schweiz würde man bei einem solchen Anblick sagen: »Der geht auf dem Zahnfleisch.«

Die Attraktion in diesem Camp ist das Toilettenhäuschen. Es steht über einem endlosen Abgrund. Zudem sieht es wackelig und verwittert aus und wirkt nicht gerade Vertrauen erweckend. Darüber kreisen riesige schwarze Bergdohlen, die das Häuschen nicht aus den Augen lassen. Das Ganze erklärt wohl, warum die Gegend hier so verschmutzt ist. Auch die zwei Hütten, die zum Übernachten dienen, passen überhaupt nicht in diese Mondlandschaft. Sie sehen aus wie zwei grüne Blechdosen. Immerhin kann ich hier für nur zwei Dollar eine Coca Cola kaufen und lasse sie mir reservieren, um sie nach dem Gipfelsturm sozusagen als Champagner zu mir zu nehmen. Danach treffe ich auf eine Frau, die gerade aus ihrem Zelt kriecht. Auch sie frage ich nach ihrem Gipfelerlebnis. Sie hat es nicht geschafft und hat diesem »blöden Berg«, wie sie sagt, auf 5.100 Meter den Rücken gekehrt. Sie hat nicht eingesehen, warum sie sich noch weiterquälen soll, zumal ihr das Trinkwasser, obwohl warm verpackt, eingefroren ist. Die Berichte sind nicht gerade aufmunternd.

Hans stellt zum wiederholten Mal fest, dass seine Ausrüstung nicht den Anforderungen genügt. Er besitzt keine Thermosflasche und weiß nun, dass auch der heißeste Tee nach ein paar Stunden eingefroren sein wird. Da der Rentner, der früher bereits zwei Mal auf dem Gipfel war, das nächtliche Spektakel nun doch nicht mehr mitmachen möchte, kann Hans zumindest seinen Wärme haltenden Flaschenüberzug benutzen. Er bekommt auch den Höhenmesser, damit wir uns in der Nacht orientieren können.

Beim Mittagessen verzehre ich die Spaghetti mit großem Appetit. Kam ich vor einer Stunde noch völlig erschöpft hier an, so habe ich mich nach ein paar Minuten in der Sonne erstaunlich schnell erholt. Am Tisch wird natürlich nur von dem bevorstehenden Aufstieg gesprochen. Alle sind wir etwas nervös, zumal die Auskünfte der Absteigenden nicht sehr ermutigend waren. Um Mitternacht soll es losgehen, also bleiben uns geschlagene zehn Stunden, die wir in dieser unwirtlichen Gegend hinter uns bringen müssen. Einige von uns nutzen den Nachmittag, um zu schlafen. Der Rentner steigt noch etwas höher hinauf und ich lese in meinem spannenden Buch weiter. Je mehr ich lese, umso ruhiger werde ich. Ich staune über die mutige Frau und ihre Erlebnisse und gleichzeitig erinnere ich mich an meine zum Teil sehr harte Zeit in Afrika. Was habe ich nicht alles unternommen und welch strapaziöse Fahrten in Kauf genommen, genau wie diese Frau in Nepal. Vielleicht wird man erst in solchen Ländern so stark, weil man sonst nicht den Hauch einer Chance hat, ans Ziel zu kommen. Während des Lesens verstärkt sich immer mehr die Gewissheit, dass ich heute Nacht den Uhuru Peak erreichen könnte. Diese Erkenntnis beruhigt mich sehr.

Die Zeit schleicht langsam dahin. Ich warte schon wieder auf das Abendessen, das heute eine Stunde früher serviert wird, damit wir noch Zeit zum Schlafen haben. Im Camp ist es ruhig geworden, da die meisten Leute weiter nach unten marschiert sind. Außer uns warten nur noch zwei kleinere Gruppen auf den Nachtmarsch. Endlich ist es so weit, dass wir die letzte Stärkung zu uns nehmen können. Hans meint trocken: »Kommt mir vor wie die Henkersmahlzeit.« Stunden später werden wir wissen, wie nahe an der Wirklichkeit er mit seiner Vermutung lag. Es werden köstlich gebratene Hühnerbeine und Kartoffelsalat serviert. Mit großem Hunger esse ich alles, was angeboten wird. Der Führer gibt uns die letzten Anweisungen, wobei er uns ermahnt, alles, was wärmt, anzuziehen, denn es werde sehr kalt sein. Ich kann mir kaum vorstellen, mit so vielen Pullovern, Jacken und der zusätzlichen extrawarmen Unterwäsche loszumarschieren, da ich normalerweise schnell schwitze. Doch ich befolge den Rat und bin Stunden später dankbar dafür.


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