Ich liege im Zelt und lese noch ein wenig. Zwischendurch mache ich mir bereits Gedanken, wie viel Trinkgeld ich den Trägern am Ende geben werde. Außerdem möchte ich ein paar Worte an sie richten und überlege, was passend sein könnte. Gegen neun Uhr höre ich Wind aufkommen, doch langsam werde ich müde und döse wohl kurz ein. Um viertel nach elf werden wir geweckt. Ich ziehe mir schnell die restlichen Kleider an, die sich zum Wärmen im Schlafsack befinden. In die Wanderschuhe puste ich ein paar Mal meinen warmen Atem hinein, damit sie nicht ganz so kalt sind. Dann werden Mütze und Handschuhe angezogen, die Stirnlampe umgebunden und schon bin ich bereit. In meinem Tagesrucksack befinden sich mein Fotoapparat, zwei Thermosflaschen mit Flüssigkeit, ein paar Trockenfrüchte und zwei Scheiben Vollkornbrot. Auch meine Regenhose bleibt vorläufig im Rucksack.

Bevor es nun endlich ins Ungewisse losgeht, treffen wir uns alle zu einem wärmenden Tee. Wir Frauen müssen als Erste direkt hinter dem Führer gehen. Petras Stirnlampe funktioniert nach kurzer Zeit kaum noch, also bleibe ich hinter dem Führer. Wir marschieren sehr langsam. Sehen können wir nur, was gerade vor unseren Füßen liegt. Von Anfang an ist der Weg sehr steil. Obwohl der Wind heftig an den Kleidern zerrt, muss ich nach einer halben Stunde bereits eine Jacke und einen Pullover ausziehen. Ich habe Durst, mir fehlt die ständige Trinkmöglichkeit mit dem Schlauch. Heute Nacht habe ich ihn nicht dabei, denn er würde einfrieren. Es geht weiter, doch es ist sehr anstrengend. Hans hat Kopfschmerzen. Bald muss ich anhalten und meine Kleider wieder anziehen, weil der Wind zugenommen hat. Es wird rapide kühler. Nach einer oder auch zwei Stunden, so genau weiß man das nicht, fragt sich jeder von uns, warum er hier ist. Wegen des Windes höre ich nicht viel von meinen Mitstreitern hinter mir. Nur ab und zu ertönt ein »Scheiße«. Vor uns geht eine andere kleine Gruppe. Wenn ich nach oben schaue, wird mir fast schlecht. So weit ich sehen kann, erkenne ich nur den schwarzen Berg. Von einem Ziel ist nichts zu sehen, dafür wird es immer steiler und die Serpentinen immer enger. Da der Wind zunimmt, wird es noch kälter, meine Finger frieren fast ein. Überall erkenne ich herumliegende Papierfetzen oder laufe an Erbrochenem vorbei. Eine Frau kommt uns entgegen. Sie ist auf dem Rückweg. Ihre Bergkleidung scheint mir den Temperaturen schlecht angepasst zu sein und auch der Teddybär-Rucksack auf ihrem Rücken kommt mir fehl am Platz vor. In immer kürzeren Abständen werden Pausen gemacht, wobei ich mich jedes Mal sofort hinsetzen muss. Doch es wird noch schlimmer. Je höher wir kommen, desto schwerer wird das Atmen. Petra geht es nicht gut und sie hat Durchfall. Ich frage mich erneut, was ich hier am Berg eigentlich zu suchen habe. Die Stimmung ist sehr schlecht. Petra möchte anscheinend umkehren, doch kann sie vom Hilfsführer noch einmal motiviert werden. Wir stapfen Schritt um Schritt weiter. Hans schaut auf seinen Höhenmesser. Seine Auskunft, dass wir noch nicht einmal bei 5.000 Meter angekommen sind, ist äußerst deprimierend. Es wird immer kälter und windiger. Ich presse die Augen zu kleinen Schlitzen zusammen, damit sie nicht tränen. Der Nachteil ist, dass ich mich müder fühle und die Augen am liebsten gar nicht mehr öffnen möchte. Ich schleppe mich weiter. Der Führer sucht immer wieder nach dem Weg. Mein ganzes Denken dreht sich nur noch darum, wie schlecht und total entkräftet ich mich fühle. Der Führer sagt uns: »Denkt nicht an den Berg! Ihr müsst euren Kopf frei machen vom Berg! Denkt an zu Hause in Deutschland oder sonst wo!« Ich versuche es und sehe das Bild meiner Tochter vor meinen Augen. Plötzlich höre ich eine mir fremde Stimme ihren Namen rufen, nein stöhnen. Immer wieder vernehme ich: »Napirai, Naaapirai.« Dann realisiere ich, dass ich es bin, die so laut vor sich hinstöhnt. Meine Stimme ist mir fremd und viel zu dunkel. Ich muss mich hinsetzen und sofort Tee trinken. Ich habe das Gefühl, ich verdurste. Petra und ihr Lebensgefährte wollen nicht mehr weiter. Sie friert schrecklich und sitzt mit einem Heulkrampf am Boden. Der Wind bläst fürchterlich und wir bringen kaum die Augen auf. Die Führer raten ihr, ihre Regenhose überzuziehen. Doch sie macht keine Bewegung mehr und möchte nur noch hinunter. Ihr Partner und zwei der Hilfsführer ziehen ihr die zusätzlichen Hosen über, bevor sie sich mit ihr auf den Rückweg begeben. Hans hat in der Zwischenzeit hinter einen Stein gekotzt. Eigentlich wollte er auch zurück, ist aber nun dank des vom Führer gereichten Tees soweit wieder in Ordnung. Wir sind gerade mal knapp auf 5.200 Höhenmeter. Das bedeutet, wir haben erst die Hälfte geschafft und haben noch 695 Höhenmeter vor uns. Ich weiß nicht, wie ich die noch erklimmen soll. Aber hier möchte ich nicht umkehren! Der Führer, Hans und ich gehen weiter. Hans schwankt bedenklich. Wir kämpfen um jeden Meter. Mittlerweile schleppe ich mich mehr, auf die Stöcke gestützt, mit den Armen nach oben, als dass ich noch kräftig laufen könnte. Nach jeweils 20 Schritten muss ich pausieren, sonst falle ich fast um. Ich bin dann so erschöpft, dass ich keinen Schritt mehr machen kann. Doch nach zwei oder drei Minuten bin ich für einen kurzen Moment wieder fit. Auch mein Verstand ist dann völlig klar. Wenn wir jedoch weiterstapfen, ist die Energie nach ein paar Schritten erneut zu Ende. Immer häufiger höre ich mich mit der mir fremden Stimme stöhnen. Ich kann es nicht beeinflussen. Je schwächer ich werde, desto lauter ist mein Singsang. Einmal stöhne ich »Mama«, ein anderes Mal rufe ich nach Napirai oder meinem Schatz. Dann versuche ich, die Schritte zu zählen oder klopfe nach jedem Schritt die Schuhe gegeneinander. Einfach etwas machen, das ablenkt! Ansonsten ist man nur mit seinem schlechten und erschöpften Zustand beschäftigt.

Wir sind nun sicher schon fünf Stunden am Steigen und immer noch ist alles schwarz, wenn ich nach oben schaue. Ich sage dem Führer, dass ich höchstens bis Stella Point gehen werde. Wie weit ist es denn noch, verdammt noch mal!? Doch er gibt immer die gleiche Antwort und die schon seit Stunden: »Nicht mehr weit!« Ich bin mir sicher: Weiter als bis Stella Point werde ich nicht mehr gehen können. Der Gipfel kann mir gestohlen bleiben! Während ich über meinen Stöcken hänge und mich vorwärts ziehe, muss ich daran denken, wie schlecht es mir vor Jahren im Spital von Maralal erging. Damals konnte ich vor Schwäche, verursacht durch die Malaria, kaum auf die Toilette und musste gestützt werden. 50 Meter sahen für mich wie viele unüberwindbare Kilometer aus. Damals half mir auch eine Pause nichts, denn es wurde nicht besser. Heute dagegen kann ich nach zwei Minuten Pause zumindest geringe Kräfte mobilisieren. Während ich meinen damaligen Zustand in Erinnerung hole, fühle ich mich etwas besser. Und dennoch: So leiden musste ich in der Schweiz noch nie! Auch Hans geht es nicht gut, denn er schwankt ständig hin und her. Wir machen wieder Pause. Der Führer ist nicht sehr begeistert, denn er friert genauso wie wir. Als wir weiter wollen, bemerke ich, dass er fast eingeschlafen ist. Ich bin sofort hell wach und rüttle ihn am Arm. Er öffnet die Augen, sagt »yes, yes« und läuft weiter. Ich beginne zu zweifeln, ob ein Führer für uns beide wirklich ausreichend ist. Was ist, wenn ihm etwas zustößt oder einer von uns schlapp macht? Ich darf nicht so weit denken. Erneut frage ich ihn, wie weit es noch bis Stella Point sei. Er antwortet: »Für mich etwa sechs Minuten, aber ich weiß nicht, wie lange es mit euch dauert!« Na ja, dann kann es sich ja nicht mehr um Stunden handeln. Mit letzter Kraft reiße mich noch einmal zusammen. Ich denke an das enttäuschte Gesicht meiner Tochter, wenn ich ihr sagen muss, dass ihre Mama es nicht bis zum Gipfel geschafft hat. Obwohl man sich weiß Gott nicht schämen musste, denn es ist die reinste Qual, jedenfalls für uns. Für Messner & Co, die sozusagen auf diesen Höhen erst picknicken, wäre das hier sicherlich nur ein Spaziergang. Wieder Rast, wieder aufrappeln und weiterschleppen! Hans schaut auf den Höhenmesser und erklärt, es seien noch etwa 100 Höhenmeter bis zum Stella Point. Ich kann es nicht glauben, dass es immer noch so lange dauern soll! Der Führer nimmt uns den Rucksack ab und sofort atmet es sich etwas besser. Wir kämpfen uns weiter. Plötzlich reicht uns der Führer neben einem großen Stein die Hand und sagt: »Congratulation, you have reached Stella Point.« Ich bin platt. Wir sind am Stella Point angekommen, der von seinem Aussehen her eigentlich nichts Besonderes darstellt. Der Höhenmesser hat sich fast um 100 Meter geirrt! Als ich mich umdrehe, bemerke ich den Sonnenaufgang. Zum ersten Mal seit über sechs Stunden sehen wir etwas anderes als schwarzen Steinboden und Dunkelheit. Dieser tiefrote Streifen ist eine kleine Emotion wert, doch sie reicht nicht aus, um den Fotoapparat unter den diversen Jacken hervorzuziehen. Hier ist es nun kälter als je zuvor. Irgendwie klebe ich mir zusätzlich die Regenüberhose an, obwohl nichts zusammenpassen will. Hauptsache, es wärmt. Hans wiederholt ständig: »So schlecht, wie ich mich fühle, kann das hier oben nicht gesund sein!« Mir geht es eigentlich nicht schlecht. Ich spüre keine Übelkeit und keine Kopfschmerzen. Aber ich fühle einfach nichts. Ich bin innerlich hohl und empfinde keine Regung mehr. Der Führer drängt weiter. Ich höre Hans sagen: »Komm, lass uns weitergehen! Jetzt, wo wir schon mal hier sind, schaffen wir den Rest auch noch.« Nachdem er das in seiner schlechten Verfassung so optimistisch sagt, muss auch ich einfach weiter. Später bin ich ihm dankbar. Ohne den wankenden Hans vor mir hätte ich wohl bei Stella Point den Sinn für das Ganze verloren.


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