Der Fahrer drängte sich vor eine Warteschlange. Der Posten, der einen Stahlhelm trug und den Kontrollpunkt besetzte, hob sein Gewehr, um den Durchgang zu versperren. Der Fahrer wedelte mit einem Blatt Papier, das mit prägnanten gotischen Lettern bedruckt war, vor der Nase des Postens herum. Der Wächter las das Dokument, nahm zackig Haltung an und deutete den Kai entlang.

Der Professor rührte sich nicht. Er hatte beobachtet, wie jemand an Bord des Schiffs, das am Kai festgemacht war, ein Bündel zu den Wartenden auf dem Pier hinunterwarf. Der Wurf fiel zu kurz aus, und das Bündel landete im Wasser. Lautes Geschrei stieg von der Menschenmenge auf.

»Was ist passiert?«, fragte der Professor.

Der Wächter machte sich nicht mal die Mühe, in die Richtung der Unruhe zu blicken. »Flüchtlinge mit Kleinkindern können sofort an Bord gehen. Sie werfen das Kind zurück an Land und benutzen es immer wieder als Bordkarte. Manchmal werfen sie daneben, und das Kind fällt ins Wasser.«

»Wie grässlich«, sagte der Professor schaudernd.

Der Wachtposten zuckte die Achseln. »Sie sollten sich lieber beeilen. Sobald es aufhört zu schneien, schicken die Roten ihre Flugzeuge, um Bomben abzuwerfen oder im Tiefflug anzugreifen. Viel Glück.« Er hob sein Gewehr hoch, um den Nächsten in der Warteschlange zu stoppen.

Das magische Dokument bewahrte Kovacs und den Fahrer vor einem Paar brutal aussehender SS-Offiziere, die Ausschau nach kräftigen Männern hielten, um sie zum Dienst an die Front zu schicken. Schließlich erreichten sie eine Rampe, die auf eine mit verwundeten Soldaten beladene Fähre führte. Erneut zeigte der Fahrer seine Dokumente einem Wachtposten, der sie aufforderte, schnellstens an Bord zu gehen.

Während die überladene Fähre vom Kai ablegte, wurde sie von einem Mann beobachtet, der die Uniform des Marinesanitätscorps trug. Er hatte mitgeholfen, die Verwundeten an Bord zu bringen, doch nun schlängelte er sich durch das Menschengewühl weg von der Kante des Piers und zu einem Schiffsfriedhof.

Er kletterte auf die verfallenden Überreste eines Fischerboots und ging unter Deck. Er holte ein mit Kurbel betriebenes Sprechfunkgerät aus einem Schrank in der Kombüse, setzte es in Gang und murmelte ein paar russische Sätze. Er lauschte der Antwort, die von einem heftigen Rauschen begleitet wurde, stellte das Funkgerät wieder an seinen Platz und kehrte zur Fährbrücke zurück.

Die Fähre mit Kovacs und seinem hochgewachsenen Begleiter hatte sich von der Seeseite einem Schiff genähert. Das Schiff war mehrere Meter vom Kai weggeschleppt worden, um verzweifelte Flüchtlinge davon abzuhalten, an Bord zu schleichen. Während die Fähre unter dem Bug des Schiffs durchlief, blickte der Professor hoch. Der Name des Schiffs war in gotischen Lettern auf dem marinegrauen Rumpf zu lesen: Wilhelm Gustloff.

Eine Gangway wurde heruntergelassen, und die Verwundeten wurden aufs Schiff getragen. Dann kletterten die anderen Passagiere die Gangway hoch. Sie hatten ein Lächeln der Erleichterung auf ihren Gesichtern und Dankgebete auf den Lippen. Das deutsche Vaterland war nur noch eine Schiffsreise von wenigen Tagen weit weg.

Keiner der glücklichen Passagiere konnte in diesem Moment ahnen, dass sie soeben das Deck einer schwimmenden Bombe betreten hatten.

Kapitän 3. Klasse Sasha Marinesko blickte stirnrunzelnd durch das Periskop des U-Boots S-13.

Nichts.

Nicht ein deutsches Schiff in Sicht. Die graue See war so leer wie die Taschen eines Seemanns nach einem Landurlaub. Nicht einmal ein stinkendes Ruderboot, auf das man hätte schießen können. Der Kapitän dachte an die zwölf ungenutzten Torpedos an Bord des sowjetischen U-Boots, und sein Zorn nagte an ihm wie eine offene Wunde.

Das Oberkommando der sowjetischen Marine hatte verlauten lassen, dass der Angriff der Roten Armee auf Danzig eine umfangreiche Evakuierung auf dem Seeweg erzwingen würde. Die S-13 war eins von drei sowjetischen U-Booten, die den Befehl hatten, sich vor Memel, einem Hafen, der immer noch von den Deutschen gehalten wurde, für den erwarteten Exodus bereitzuhalten.

Als Marinesko erfuhr, dass Memel eingenommen worden war, rief er seine Offiziere zusammen. Er teilte ihnen mit, dass er sich entschieden habe, die Bucht von Danzig anzusteuern, wo die Evakuierungskonvois eher zu suchen seien.

Niemand widersprach. Offiziere und Mannschaften waren sich darüber im Klaren, dass der Erfolg ihrer Mission den Unterschied zwischen einem Heldenempfang und einer Fahrkarte nach Sibirien ausmachte.

Tage zuvor war der Kapitän mit der Geheimpolizei, dem NKWD, in Konflikt geraten. Er hatte die Basis unerlaubt verlassen und war am 2.Januar auf Sauftour gewesen, als von Stalin der Befehl an die U-Boote erging, Kurs auf die Ostsee zu nehmen und zwischen den Konvois Chaos zu verursachen. Doch der Kapitän befand sich auf einem dreitägigen Saufgelage in den Freudenhäusern und Bars der finnischen Hafenstadt Turku. Er kehrte zur S-13 einen Tag, nachdem sie längst hätte in See stechen sollen, zurück.

Der NKGB erwartete ihn bereits. Sie wurden noch misstrauischer, als er erklärte, er könne sich an die Einzelheiten seiner Sauftour nicht erinnern. Marinesko war ein großspuriger und harter U-Boot-Skipper, der mit dem Leninorden und dem Roten-Banner-Orden ausgezeichnet worden war. Der großspurige U-Boot-Mann explodierte vor Wut, als die Geheimpolizei ihn der Spionage und des Überlaufens zum Feind bezichtigte.

Sein ihm wohlgesonnener Kommandeur verschob die Entscheidung, ein Kriegsgerichtsverfahren einzuleiten. Dieser Schachzug erwies sich jedoch als vergeblich, als die Ukrainer, die auf dem U-Boot Dienst taten, eine Petition unterschrieben, in der sie darum baten, dass ihr Kommandant wieder auf sein Boot zurückkehren dürfe. Der Kommandeur wusste, dass diese Loyalitätsbezeugung als potenzielle Meuterei eingestuft würde. In der Hoffnung, die gefährliche Situation ein wenig zu entschärfen, erteilte er dem U-Boot den Marschbefehl, während über ein Kriegsgerichtsverfahren nachgedacht wurde.

Marinesko ging davon aus, dass er und seine Männer einer strengeren Strafe entgehen würden, wenn er genügend deutsche Schiffe versenkte.

Ohne die Marineleitung davon zu informieren, brachten er und seine Männer U-Boot S-13 auf einen Kurs, der es dem Patrouillendienst entzog und dafür seinem verhängnisvollen Rendezvous mit dem deutschen Kreuzfahrtschiff entgegenführte.

Friedrich Petersen, der weißhaarige Kapitän der Gustloff, stampfte in der Offiziersmesse auf und ab und führte sich auf wie ein wandelndes Feuerwerk. Dann blieb er abrupt stehen und funkelte einen jüngeren Mann, der in seiner Uniform der U-Boot-Flotte wie aus dem Ei gepellt aussah, wütend an.

»Ich darf Sie daran erinnern, Korvettenkapitän Zahn, dass ich der Kapitän dieses Schiffs und für seine Führung und die Sicherheit aller, die sich an Bord befinden, verantwortlich bin.«

Um seiner eisernen Disziplin Nachdruck zu verleihen, bückte Korvettenkapitän Zahn sich und kraulte den großen Schäferhund, der neben ihm hockte, hinter den Ohren.

»Und ich darf Sie daran erinnern, Kapitän, dass die Gustloff seit 1942 als Wohnschiff der U-Boot-Basis unter meinem Kommando steht. Ich bin der befehlshabende Marineoffizier an Bord. Außerdem vergessen Sie offensichtlich Ihre Erklärung, kein zur See fahrendes Schiff zu kommandieren.«

Petersen hatte diese Verpflichtung als Bedingung für seine Repatriierung unterschrieben, nachdem er von den Engländern gefangen genommen worden war. Die Verpflichtung war eine Formalität, weil die Briten glaubten, er sei zu alt für den aktiven Dienst. Mittlerweile siebenundsechzig Jahre alt, wusste er, dass seine Karriere beendet war, ganz gleich wie der Krieg ausging. Er war ein Liegekapitän, der »Hafenkapitän«, der Gustloff. Doch er schöpfte aus der Erkenntnis ein wenig Trost, dass der jüngere Mann aus aktiven Einsätzen herausgehalten wurde, nachdem er die Versenkung des englischen Schiffs Nelson verpfuscht hatte.


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