»Nichtsdestoweniger, Kapitän, hat die Gustloff dasDock niemals unter Ihrem Befehl verlassen«, sagte er. »Ein schwimmendes Klassenzimmer und feststehende Baracken sind wohl alles andere als ein seegängiges Schiff. Ich habe den größten Respekt vor dem U-Boot-Dienst, aber Sie können der Tatsache nicht widersprechen, dass ich der Einzige bin, der qualifiziert ist, das Schiff auf See zu führen.«
Petersen hatte das Kreuzfahrtschiff einmal geführt, während einer Reise in Friedenszeiten, und hätte unter normalen Bedingungen nie wieder das Kommando über die Gustloff erhalten. Zahn sträubten sich die Haare bei der Vorstellung, unter dem Kommando eines Zivilisten zu stehen. Deutsche U-Boot-Fahrer betrachteten sich als elitäre Klasse.
»Trotzdem bin ich immer noch der ranghöchste Offizier der Kriegsmarine hier an Bord. Vielleicht ist Ihnen schon aufgefallen, dass an Deck Flugabwehrgeschütze montiert wurden«, entgegnete Zahn. »Damit ist dieser Kasten rein technisch betrachtet eindeutig ein Kriegsschiff.«
Der Kapitän quittierte das mit einem nachsichtigen Lächeln. »Eine seltsame Art von Kriegsschiff. Vielleicht ist Ihnen aufgefallen, dass wir Tausende von Flüchtlingen an Bord haben, also eine Mission ausführen, die eher in den Bereich der Handelsmarine fällt.«
»Sie haben die fünfzehnhundert U-Boot-Männer vergessen, die ausgeschifft werden müssen, damit sie weiterhin das Dritte Reich verteidigen können.«
»Ich würde mich freuen, Ihren Wünschen nachzukommen, wenn Sie mir einen diesbezüglichen schriftlichen Befehl vorlegen können.« Petersen wusste ganz genau, dass in dem Durcheinander der Evakuierung keinerlei schriftliche Befehle existierten.
Zahns Gesicht nahm die Farbe einer gekochten Roten Bete an. Sein Widerstand ging weit über persönliche Animosität hinaus. Zahn hatte gewichtige Zweifel hinsichtlich Petersens Fähigkeiten, das Schiff mit der vielsprachigen Mannschaft unter seinem Kommando zu leiten. Er hätte den Kapitän am liebsten einen ausgebrannten Narren genannt, doch abermals gewann seine straffe Disziplin die Oberhand. Er wandte sich an die anderen Offiziere, die die unschöne Auseinandersetzung voller Unbehagen verfolgt hatten.
»Das wird keine ›Kraft durch Freude‹-Fahrt«, sagte Zahn.
»Wir alle, Offiziere der Kriegs- und der Handelsmarine, haben eine schwierige Aufgabe und tragen eine schwere Verantwortung. Unsere Pflicht ist es, alles zu tun, um die Lage für die Flüchtlinge so erträglich wie möglich zu machen, und ich erwarte, dass die Mannschaft alles in ihrer Kraft Stehende unternimmt, um das zu gewährleisten.«
Er schlug die Hacken zusammen und salutierte vor Petersen, dann verließ er die Offiziersmesse, gefolgt von seinem treuen Schäferhund.
Der Posten an der Gangway hatte einen Blick auf das Dokument des hochgewachsenen Mannes geworfen und es einem Offizier gereicht, der das Verladen der Verwundeten beaufsichtigte.
Er nahm sich die Zeit, den Brief zu lesen. Schließlich meinte er: »Herr Koch hält große Stücke auf Sie.«
Erich Koch war der mörderisch grausame Gauleiter, der sich geweigert hatte, Ostpreußen zu evakuieren, während er seine eigene Flucht mit einem mit wertvollem Beutegut beladenen Schiff vorbereitete.
»Ich denke, dass ich mir seinen Respekt redlich verdient habe.«
Der Offizier winkte einen Proviantmeister zu sich und erläuterte ihm die Situation. Der Proviantmeister zuckte die Achseln, ging über das dicht bevölkerte Promenadendeck voraus und stieg dann drei Etagen weit in den Schiffsrumpf hinunter. Er öffnete die Tür einer Kabine, die zwei Kojen und ein Waschbecken enthielt. Der Raum war zu klein, als dass sie alle drei ihn gleichzeitig hätten betreten können.
»Nicht gerade die Führer-Suite«, sagte der Proviantmeister. »Aber Sie können von Glück reden, dass Sie die Kabine haben. Die Toilette ist vier Türen weiter.«
Der hochgewachsene Mann schaute sich in der Kabine um. »Das wird schon reichen. Und jetzt sehen Sie zu, ob Sie uns etwas zu essen beschaffen können.«
Der Gesicht des Proviantmeisters rötete sich. Er war es leid, von hohen Tieren, die einigermaßen komfortabel untergebracht waren, herumkommandiert zu werden, während gewöhnliche Sterbliche leiden mussten. Aber irgendetwas in den kalten blauen Augen des hochgewachsenen Mannes hielt ihn davon ab zu widersprechen. Er kam nach einer Viertelstunde mit zwei Schüsseln heißer Suppe und einigen Stücken harten Brotes zurück.
Die beiden Männer verzehrten schweigend ihre Mahlzeit. Der Professor war als Erster fertig und stellte die Schüssel beiseite. Seine Augen waren stumpf vor Erschöpfung, aber sein Geist war immer noch hellwach.
»Was für ein Schiff ist das?«, fragte er.
Der hochgewachsene Mann wischte mit seinem letzten Stück Brot die restliche Suppe aus der Schüssel, dann zündete er sich eine Zigarette an. »Willkommen auf der Wilhelm Gustloff, dem Stolz der deutschen Kraft-durch-Freude-Bewegung.«
Die Organisation »Kraft durch Freude« war eine groß angelegte Propagandamasche, um den deutschen Arbeitern die Segnungen des Nationalsozialismus nahezubringen. Kovacs schaute sich in ihrer spartanischen Behausung um. »Ich sehe weder viel Kraft noch viel Freude.«
»Nichtsdestoweniger wird die Gustloff eines Tages wieder deutsche Arbeiter und treue Parteimitglieder ins sonnige Italien bringen.«
»Ich kann’s kaum erwarten. Sie haben mir noch nicht verraten, wohin die Reise geht.«
»So weit weg von der Roten Armee wie möglich. Ihre Arbeit ist zu wichtig, um in russische Hände fallen zu dürfen. Das Reich wird bestens für Sie sorgen.«
»Im Augenblick sieht es so aus, als hätte das Reich Probleme, für seine eigenen Leute zu sorgen.«
»Ein vorübergehender Rückschlag. Ihr Wohlergehen hat für mich größte Priorität.«
»Mein Wohlergehen macht mir im Augenblick keine Sorgen.« Kovacs hatte seine Frau und seinen kleinen Sohn seit Monaten nicht mehr gesehen. Nur ihre unregelmäßigen Briefe hielten seine Hoffnung aufrecht.
»Ihre Familie?« Der hochgewachsene Mann musterte ihn mit ruhigem, festem Blick. »Machen Sie sich keine Gedanken. Dies hier wird bald vorüber sein. Ich schlage vor, dass Sie ein wenig schlafen. Nein, das ist ein Befehl.«
Er streckte sich auf der Koje aus, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und schloss die Augen. Kovacs ließ sich nicht davon täuschen. Sein Begleiter schlief nur selten und war schon bei der geringsten Störung hellwach.
Kovacs betrachtete das Gesicht des Mannes. Er konnte Anfang zwanzig sein, sah allerdings älter aus. Er besaß den länglichen Kopf und das markante Profil, das auf Propagandaplakaten als arisches Ideal gepriesen wurde.
Kovacs erschauerte, als er sich daran erinnerte, wie kaltblütig der russische Soldat ausgeschaltet worden war. Die letzten Tage waren ein verschwommener Ablauf von Ereignissen gewesen. Der hochgewachsene Mann war während eines Schneesturms im Labor aufgetaucht und hatte ein Dokument vorgelegt, das ihm die Macht verlieh, Kovacs zu befreien. Er hatte sich als Karl vorgestellt und Kovacs angewiesen, seine Siebensachen zu packen. Dann folgten die Irrsinnsfahrt durch die eisige Landschaft und die knappe Flucht vor den russischen Patrouillen. Und nun dieses armselige Schiff.
Die Mahlzeit hatte Kovacs müde gemacht. Seine Augenlider sanken herab, und er fiel in einen tiefen Schlaf.
Während der Professor schlief, durchstreifte ein Trupp Militärpolizei die Gustloff auf der Suche nach Deserteuren. Das Schiff wurde für die Abfahrt ausklariert, und ein Hafenlotse kam an Bord. Gegen ein Uhr mittags machten die Matrosen die Vertäuung los. Vier Schlepper kamen längsseits und begannen, das Schiff vom Kai wegzuziehen.
Eine Flotte kleiner Boote, vorwiegend mit Frauen und Kindern beladen, versperrte den Weg. Das Schiff stoppte und nahm die Flüchtlinge an Bord. Die Gustloff beförderte normalerweise 1465 Passagiere, die von einer Mannschaft von vierhundert Personen betreut wurden. Jetzt, zu Beginn dieser Reise, befanden sich an Bord des ehemals so eleganten Linienschiffs achttausend Passagiere.