Sie lächelte gekünstelt. »Mal sehen. Bis bald, Jess.«
Sie legte den ersten Gang des Volvo ein, wendete und fuhr über den Parkplatz zur Shore Road. Sie sah Jess bei seinem Fahrrad stehen, im Hintergrund das Meer, und zum zweiten Mal an diesem Tag machte sie ihm in Gedanken den Vorwurf, daß er ganz genau wußte, was für ein Bild er abgab. Aber diesmal war sie nicht erbost, sondern ein bißchen traurig. Sie fuhr weiter und fragte sich, ob der Ozean je wieder so aussehen würde wie früher, bevor dies alles passiert war. Ihre Zunge tat noch immer furchtbar weh. Sie drehte das Fenster weiter herunter und spie aus. Kein Hellrot mehr. Alles weiß, alles klar. Sie konnte deutlich das Salz des Meeres riechen, wie bittere Tränen.
3
Norm Bruett wurde morgens um Viertel nach zehn wach, weil Kinder sich vor dem Schlafzimmerfenster stritten und Country Music aus dem Radio in der Küche plärrte.
Er ging in seiner schmuddeligen Unterwäsche zur Hintertür, riß sie auf und schrie: »Schnauze, Kinder!«
Ein Moment Stille. Luke und Bobby sahen von dem verrosteten alten Kipper auf, um den sie sich gestritten hatten. Wie immer, wenn er seine Kinder sah, war Norm hin und her gerissen. Ihm blutete das Herz, wenn er sie in den abgetragenen Sachen und Klamotten von der Heilsarmee sah, wie die Niggerkinder in Ost-Arnette sie trugen, gleichzeitig empfand er eine so schreckliche, unbeherrschte Wut, daß er hinausgehen und sie windelweich prügeln wollte.
»Ja, Daddy«, sagte Luke unterwürfig. Er war neun.
»Ja, Daddy«, echote Bobby. Er war sieben, fast acht. Norm blieb noch einen Augenblick stehen und sah sie böse an, dann schlug er die Tür zu. Er stand einen Moment unschlüssig da und betrachtete die Sachen, die er gestern angehabt hatte. Sie lagen auf einem Haufen am Fuß des durchgelegenen Doppelbetts, wo er sie hingeworfen hatte.
Elende Schlampe, dachte er. Hat nicht mal die Hose aufgehängt.
»Lila!« brüllte er.
Keine Antwort. Er überlegte, ob er die Tür wieder aufreißen und Luke fragen sollte, wo sie sich wieder herumtrieb. Kleiderbasar war erst nächste Woche wieder, und wenn sie wieder beim Arbeitsamt in Braintree war, dann war sie' noch blöder, als er dachte. Er verzichtete darauf, die Kinder zu fragen. Er fühlte sich müde und hatte dumpfe, pochende Kopfschmerzen. Wie bei einem Kater, dabei hatte er gestern abend bei Hap nur drei Bier getrunken. Dieser Unfall war eine schlimme Sache gewesen. Die Frau und das Baby tot im Wagen, der Mann, dieser Campion, auf dem Weg ins Krankenhaus gestorben. Als Hap zurückkam, war die State Patrol schon dagewesen und wieder weg, ebenso der Abschleppwagen und der Leichenwagen des Bestattungsunternehmers von Braintree. Vic Palfrey hatte den Ordnungshütern stellvertretend für alle fünf ausgesagt. Der Bestattungsunternehmer, gleichzeitig der amtliche Leichenbeschauer, hatte sich geweigert, Vermutungen darüber anzustellen, um welche Krankheit es sich handeln konnte.
»Cholera ist es nicht. Geht nicht her und macht den Leuten damit angst. Es wird eine Autopsie durchgeführt, und das Ergebnis könnt ihr in der Zeitung lesen.«
Mieser kleiner Pisser, dachte Norm und zog langsam die Klamotten von gestern an. Seine Kopfschmerzen wurden echt zur Qual. Die Kinder sollten besser ruhig sein, sonst würden sie bald mit zwei gebrochenen Armen einen Grund zum Schreien haben. Verdammt, konnten sie nicht das ganze Jahr Schule haben?
Er überlegte, ob er das Hemd in die Hose stopfen sollte, entschied, daß der Präsident wahrscheinlich nicht ausgerechnet heute vorbeikommen würde, und ging auf Socken in die Küche. Er blinzelte in die helle Sonne, die durch die nach Osten gelegenen Fenster schien.
Das gesprungene Philco-Radio über dem Herd dudelte:
»But ba-yay -yaby you can tell me if anyone can,
Baby, can you dig your man?
He's a righteous man,
Tell me baby, can you dig your man?«
Es war weit gekommen, wenn sie diese Niggermusik im lokalen Country-Sender spielen mußten. Norm schaltete aus, bevor ihm der Kopf platzte. Neben dem Radio lag ein Zettel, er hob ihn auf und kniff die Augen zusammen, damit er ihn lesen konnte.
Lieber Norm!
Sally Hodges sagt sie braucht jemand der heute morg en auf ihre Kinder aufpast und sagt sie will mir ein Dolar geben. Ich bin zum Esen zurück. Wenn Du willst, kanst Du Dir Würste machen. Ich liebe Dich Schatz.
Lila.
Norm legte den Zettel wieder hin, blieb einen Augenblick stehen, dachte darüber nach und versuchte, den Sinn zu begreifen. Bei diesen Kopfschmerzen fiel das Denken verdammt schwer. Babysitting... ein Dollar. Für die Frau von Ralph Hodges. Langsam kamen diese drei Elemente in seinem Kopf zusammen. Lila war weggegangen, um für einen lausigen Dollar auf Sally Hodges' drei Kinder aufzupassen, und hatte ihn mit Luke und Bobby sitzenlassen. Es waren wahrhaftig harte Zeiten, wenn ein Mann zu Hause bleiben mußte, um seinen Kindern die Nase zu putzen, damit seine Frau einen Dollar verdienen konnte, der nicht einmal für drei Liter Sprit reichte. Verdammt harte Zeiten.
Dumpfe Wut überkam ihn, und seine Kopfschmerzen verschlimmerten sich noch. Er schlurfte langsam zum Kühlschrank, den er gekauft hatte, als er noch reichlich Überstunden machte, und öffnete ihn. Die meisten Fächer waren leer, außer ein paar Resten, die Lila in Plastikschüsseln getan hatte. Er haßte diese Tupperschüsseln. Alte Bohnen, alter Mais, ein Rest Chili... nichts, was ein Mann gern essen würde. Nur diese Tupperschüsseln und drei in Butterbrotpapier gewickelte kleine alte Würstchen. Er bückte sich, betrachtete sie, und die vertraute hilflose Wut verschmolz mit seinen Kopfschmerzen. Diese Würstchen sahen aus, als hätte jemand die Pimmel von drei Pygmäen aus Afrika abgeschnitten, aus Südamerika oder weiß der Geier, wo sie eben zu Hause waren. Er hatte sowieso keinen Appetit. Wenn er es recht überlegte, war ihm verdammt elend.
Er ging zum Herd, riß an dem an die Wand genagelten Stück Schmirgelpapier ein Streichholz an, zündete den vorderen Gasring an und setzte Kaffeewasser auf. Dann hockte er sich hin und wartete stumpfsinnig darauf, daß es kochte. Und kurz bevor es kochte, mußte er den Rotzlappen aus der Gesäßtasche reißen und sich gewaltig und naß hineinschneuzen. Erkältet, dachte er. Ist das nicht toll, zu allem anderen. Aber auf die Idee, an den Schleim zu denken, der gestern abend aus dem Zinken dieses Campion gelaufen war, kam er nicht.
Hap war in seiner Werkstatt damit beschäftigt, einen neuen Auspuff an Tony Leominsters Scout einzubauen, und Vic Palfrey schaukelte auf einem Klappstuhl, sah zu und trank Dr. Pepper, als es vorne klingelte.
Vic blinzelte. »Die State Patrol«, sagte er. »Sieht aus wie dein Vetter. Joe Bob.«
»Okay.«
Hap kam unter dem Scout hervor und wischte sich die Hände an einem Putzlappen ab. Auf dem Weg durchs Büro mußte er kräftig niesen. Er haßte Sommererkältungen. Das waren die schlimmsten. Joe Bob Brentwood, der fast zwei Meter groß war, stand neben seinem Streifenwagen und tankte. Hinter ihm lagen die drei Zapfsäulen, die Campion am Vorabend umgefahren hatte, säuberlich aufgereiht, wie tote Soldaten.
'»He, Joe Bob!« sagte Hap, als er nach draußen kam.
»Hap, altes Arschloch«, sagte Joe Bob, stellte den Handgriff auf Automatik und trat über den Schlauch. »Hast Glück, daß der Laden heute morgen noch steht.«
»Scheiße. Stu Redman hat den Kerl kommen sehen und die Pumpen abgeschaltet. Aber es hat 'n Arschvoll Funken geschlagen.«
»Ja?«
Joe Bob sah zu Vic, der in der Tankstellentür stand. »War der alte Penner gestern abend auch hier?«