Lila drückte die Zigarette aus und eilte ins Schlafzimmer. Eva, die Vierjährige, schlief fest, aber Cheryl lag auf dem Rücken in der Wiege, und ihr Gesicht hatte eine beängstigende Purpurfarbe angenommen. Ihre Schreie klangen allmählich erstickt. Lila hatte keine Angst vor dem Krupp, weil ihre eigenen Kinder ihn schon gehabt hatten, daher hielt sie Cheryl an den Füßen hoch und schlug ihr kräftig den Rücken. Sie hatte keine Ahnung, ob Dr. Spock diese Behandlung empfohlen hätte oder nicht, denn sie hatte ihn nie gelesen. Aber bei Baby Cheryl funktionierte sie großartig. Das Baby quakte wie ein Frosch und spuckte plötzlich einen erstaunlich dicken gelben Schleimklumpen auf den Boden.
»Besser?« fragte Lila.
»Thön«, sagte Baby Cheryl. Sie schlief fast schon wieder. Lila wischte die Schweinerei mit einem Kleenex weg. Sie hatte ein Baby noch nie soviel Rotz auf einmal ausspucken sehen.
Stirnrunzelnd setzte sie sich wieder vor den Fernseher.
4
Vor einer Stunde war die Dunkelheit hereingebrochen.
Starkey drückte auf den Knopf unter dem mittleren Bildschirm, und das Bild leuchtete auf, mit der entnervenden Abruptheit unveränderlicher Komponenten. Es zeigte die Wüste Westkaliforniens, Richtung Osten. Eine trostlose Gegend; durch die rötliche Tönung der Infrarotphotographie wirkte die Trostlosigkeit noch unheimlicher.
Dort draußen ist es, genau geradeaus, dachte Starkey. Projekt Blau. Wieder drohte die Angst ihn zu überwältigen. Er griff in die Tasche und holte eine blaue Tablette heraus. Seine Tochter würde so etwas einen »Schlaffmacher« nennen. Bezeichnungen spielten keine Rolle, nur Ergebnisse. Er schluckte sie trocken und verzog kurz das harte Gesicht, als er spürte, wie sie die Speiseröhre hinunterrutschte. Projekt Blau.
Er blickte auf die anderen leeren Monitore und ließ auf allen ein Bild aufleuchten. 4 und 5 zeigten Labors. 4 war Physik, 5 Virusbiologie. Das Vibi-Labor stand voller Tierkäfige, hauptsächlich Meerschweinchen, Rhesusaffen und ein paar Hunde. Keins der Tiere schien zu schlafen. Im Physik-Labor drehte sich noch immer unablässig eine Zentrifuge. Darüber hatte Starkey sich beschwert. Bitter beschwert. Es war etwas Gespenstisches an dieser Zentrifuge, die sich fröhlich rundherum und rundherum und rundherum drehte, während Dr. Ezwick ganz in der Nähe tot auf dem Fußboden lag, verrenkt wie eine Vogelscheuche, die ein Windstoß umgeworfen hatte.
Man hatte ihm erklärt, daß die Zentrifuge aus derselben Stromquelle wie die Beleuchtung versorgt wurde, und wenn man die Zentrifuge ausschaltete, würde gleichzeitig das Licht ausgehen. Und die Kameras dort unten waren nicht für Infrarot ausgerüstet. Vielleicht kamen noch mehr hohe Tiere aus Washington, die sich den toten Nobelpreisträger ansehen wollten, der kaum eine Meile entfernt hundertzwanzig Meter tief unter der Wüste lag.
Wenn wir die Zentrifuge abschalten, schalten wir den Professor ab. Elementar. Seine Tochter hätte es »Catch-22« genannt.
Er nahm noch einen »Schlaffmacher« und betrachtete Monitor 2. Das Bild gefiel ihm am allerwenigsten. Ihm gefiel der Mann mit dem Gesicht in der Suppe nicht. Angenommen, jemand kommt zu einem und sagt: Sie werden die Ewigkeit mit dem Gesicht in einem Suppenteller verbringen. Wie der Gag mit der Torte im Gesicht: bei einem selbst ist er nicht mehr komisch.
Monitor 2 zeigte die Kantine von Projekt Blau. Der Unfall hatte sich fast genau zum Schichtwechsel ereignet, deshalb war die Kantine nur mäßig besucht gewesen. Starkey vermutete, daß es den Leuten ziemlich egal gewesen sein mußte, ob sie im Restaurant, in ihren Betten oder in ihren Labors gestorben waren. Aber der Mann mit dem Gesicht in der Suppe...
Ein Mann und eine Frau in blauen Overalls lagen verrenkt vor dem Süßigkeitenautomaten; ein Mann in weißem Overall neben der Seeburg-Musicbox. An den Tischen selbst waren neun Männer und vierzehn Frauen, manche neben Hostess Twinkies umgekippt, manche noch mit Bechern voll Cola oder Sprite in den steifen Händen. Und am zweiten Tisch, ziemlich hinten, ein als Frank D. Bruce identifizierter Mann mit dem Gesicht in einem Teller voll Gulaschsuppe. Campbell's Gulaschsuppe, vermutlich. Der erste Monitor zeigte nur eine Digitaluhr. Bis zum 13. Juni waren alle Ziffern der Uhr grün gewesen. Jetzt waren sie leuchtend rot. Die Uhr war stehengeblieben. Die Ziffernfolge lautete 13:06:90:02:37:16.
13. Juni 1990. Siebenunddreißig Minuten nach zwei Uhr morgens. Und sechzehn Sekunden.
Hinter ihm ertönte ein kurzer Summton.
Starkey schaltete die Monitoren einen nach dem anderen aus und drehte sich um. Er sah die Kopien auf dem Boden und legte sie wieder auf den Tisch.
»Herein.«
Es war Creighton. Er sah ernst aus, seine Haut war schiefergrau. Wieder schlechte Nachrichten, dachte Starkey ganz ruhig. Noch jemand, der in einen Teller Rindfleischsuppe getaucht war.
»Hi, Len«, sagte er leise.
Len Creighton nickte. »Billy. Es... Herrgott, ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll.«
»Am besten ein Wort nach dem anderen, Soldat.«
»Die Männer, die mit Campion in Berührung gekommen sind, wurden in Atlanta untersucht, und es sieht nicht gut aus.«
»Alle?«
»Fünf sicher. Einer - er heißt Stuart Redman - ist bisher negativ. Aber soweit wir wissen, war auch Campion länger als fünfzig Stunden negativ.«
»Wenn Campion nur nicht geflohen wäre«, sagte Starkey.
»Schlampige Sicherheitsvorkehrungen, Len. Sehr schlampig.«
Creighton nickte.
»Weiter.«
»Arnette wurde unter Quarantäne gestellt. Bisher haben wir mindestens sechzehn konstant veränderliche A-Primär-Grippefälle isoliert. Und das sind nur die offenkundigen Fälle.«
»Die Nachrichtenmedien?«
»Bis jetzt kein Problem. Sie halten es für Milzbrand.«
»Was noch?«
»Ein sehr ernstes Problem. Wir haben einen Highwaypolizisten aus Texas namens Joseph Robert Brentwood. Seinem Vetter gehört die Tankstelle, wo Campion angekommen ist. Er war gestern morgen dort und hat Hapscomb gesagt, daß die Leute vom Gesundheitsamt kommen. Wir haben Brentwood vor drei Stunden aufgegriffen, und er ist auf dem Weg nach Atlanta. Inzwischen ist er durch das halbe östliche Texas Streife gefahren. Gott allein weiß, mit wie vielen Leuten er Kontakt hatte.«
»Ach du Scheiße«, sagte Starkey und war entsetzt über die wäßrige Schwäche seiner Stimme und das Hautkribbeln, das am Hodenansatz angefangen hatte und sich jetzt den Bauch hocharbeitete. Übertragbarkeit 99,4%, dachte er. Es ging ihm wie irrsinnig immer wieder durch den Kopf. Und das bedeutete eine Sterblichkeitsrate von 99,4%; denn der menschliche Körper kann die zur Abwehr eines sich ständig verändernden Antigen-Virus erforderlichen Antikörper nicht produzieren. Immer wenn der Körper den richtigen Antikörper produziert hat, nimmt das Virus einfach eine leicht veränderte Form an. Aus dem gleichen Grunde war es unmöglich, einen geeigneten Impfstoff herzustellen.
99,4%.
»Mein Gott«, sagte er. »Ist das alles?«
»Nun...«
»Weiter. Alles.«
Daraufhin sagte Carsleigh ganz leise: »Hammer ist tot, Billy. Selbstmord. Er hat sich mit seiner Dienstpistole ins Auge geschossen. Die Unterlagen über Projekt Blau lagen auf seinem Schreibtisch. Wahrscheinlich glaubte er, sie würden als Abschiedsbrief vollkommen ausreichen.«
Starkey schloß die Augen. Vic Hammer war sein Schwiegersohn... gewesen. Wie sollte er das Cynthia beibringen? Tut mir leid, Cindy. Vic ist heute in einen Teller kalte Suppe gefallen. Hier, nimm einen »Schlaffmacher«. Weißt du, es gab da eine Panne. Jemand hat einen Fehler mit einem Behälter gemacht. Jemand anders hat vergessen, einen Schalter zu drücken, der den Stützpunkt abgeriegelt hätte. Die Verzögerung betrug nur vierzig Sekunden und ein paar Zerquetschte, aber das reichte. Der Behälter wird in der Branche »Schnüffler« genannt. Er wird in Portland, Oregon, hergestellt, Auftrag Nummer 164480966 des Verteidigungsministeriums. Die Behälter werden von den Technikerinnen an verschiedenen Fließbändern zusammengesetzt, und das wird deshalb so gemacht, damit die Damen nicht genau wissen, was sie eigentlich bauen. Eine hat vielleicht gerade überlegt, was sie zum Abendessen kochen sollte, und wer immer ihre Arbeit kontrollieren sollte, dachte viel-leicht gerade daran, ein neues Auto zu kaufen. Cindy, wie auch immer, der letzte Zufall war der, daß ein Mann am Sicherheitsposten vier, ein Mann namens Campion gesehen hat, wie die Zahlen rot wurden, und er verließ das Zimmer gerade noch rechtzeitig, bevor die Türen automatisch versperrt wurden. Dann hat er seine Familie geholt und ist geflohen. Er fuhr vier Minuten, bevor die Alarmsirenen losgingen und der ganze Stützpunkt abgeriegelt wurde, durch das Haupttor. Man hat erst eine volle Stunde später angefangen, nach ihm zu suchen, weil bei den Wachmännern keine Kameras in den Räumen sind - irgendwo muß man einmal aufhören, die Überwacher zu überwachen, sonst wäre jeder auf der Welt ein verdammter Spitzel -, und deshalb hat jeder angenommen, er sitzt da drinnen und wartet darauf, daß die Schnüffler herausfinden, welche Bereiche kontaminiert sind und welche nicht. Aus diesem Grund hat er einen gewissen Vorsprung bekommen, und er war schlau genug, über Landstraßen zu fahren, und hatte das Glück, daß er nicht an eine Straßensperre geriet. Dann mußte jemand eine Entscheidung treffen, ob man die State Police oder das FBI oder beide einschalten sollte, und der Amtsschimmel galoppierte hin und her und her und hin, als endlich jemand entschieden hatte, daß sich die Firma um die Angelegenheit kümmern sollte, war dieses glückliche Arschloch - dieses infizierteArschloch - bis nach Texas gekommen, und als sie ihn endlich geschnappt haben, war er nicht mehr auf der Flucht, weil er und seine Frau und seine kleine Tochter alle zusammen zum Abkühlen in der Leichenhalle eines kleinen Scheißkaffs namens Braintree lagen. Braintree, Texas. Ich will damit eigentlich nur sagen, Cindy, das war eine Verkettung von Zufällen, die man eigentlich nur noch damit vergleichen kann, den Jackpot beim Lotto abzuräumen. Zum Glück - oder besser gesagt, Unglück, bitte entschuldige - kam noch ein gerüttelt Maß Inkompetenz hinzu, aber größtenteils waren es unglückliche Zufälle. Deinen Mann traf eigentlich keine Schuld, aber er war der Projektleiter, er hat gesehen, wie die Situation eskaliert, und dann...