»Danke, Len«, sagte er.

»Billy, willst du lieber...«

»Ich bin in zehn Minuten oben. Ich möchte, daß du in fünfzehn Minuten eine Stabssitzung anberaumst. Wenn die Leute im Bett liegen, schmeiß ich sie raus.«

»Ja, Sir.«

»Und, Len...«

»Ja?«

»Ich bin froh, daß du es mir gesagt hast.«

»Ja, Sir.«

Carsleigh ging. Starkey sah auf die Uhr, dann ging er zu den Monitoren an der Wand. Er schaltete Nummer 2 ein, verschränkte die Hände hinter dem Rücken und sah nachdenklich in die stumme Kantine von Projekt Blau.

5

Larry Underwood fuhr um die Ecke und fand zwischen einem Hydranten und einer in den Rinnstein gekippten Mülltonne einen Parkplatz, der groß genug für seinen Datsun Z war. In der Mülltonne war etwas Abstoßendes, und Larry versuchte sich einzureden, dass er die Katze und die Ratte, die an ihrem weißen Bauch nagte, gar nicht gesehen hatte. Die Ratte war so schnell aus dem Scheinwerferlicht verschwunden, daß sie möglicherweise wirklich nicht dagewesen war. Die Katze aber hatte Leichenstarre. Und, dachte er, als er den Motor des Z abstellte, wenn man das eine glaubte, mußte man auch das andere glauben. Hieß es nicht, Paris hätte die größte Rattenpopulation der Welt? Die alten Abwasserkanäle. Aber auch New York lag nicht schlecht im Rennen. Und wenn ihn die Erinnerung an seine verkorkste Jugend nicht trog, liefen nicht alle Ratten in New York City auf vier Beinen. Und warum parkte er überhaupt vor diesem verfallenen Sandsteinhaus und dachte an Ratten?

Vor fünf Tagen, am 14. Juni, war er noch im sonnigen Südkalifornien gewesen, Heimat der Spinner und Sekten, der einzigen S/M-Nachtclubs der Welt mit Gogo-Tänzern und Geburtsstätte von Disneyland. Heute morgen um Viertel nach drei war er am Ufer des anderen Ozeans angekommen und hatte an der Triborough Bridge seine Gebühren bezahlt. Trübseliger Nieselregen war gefallen. Nur in New York kann ein Frühsommerregen so gnadenlos verdrießlich sein. Jetzt sah Larry die Tropfen an der Windschutzscheibe des Z zusammenfließen, während die ersten Vorboten der Dämmerung über den östlichen Himmel krochen.

Liebes New York: Ich bin wieder zu Hause.

Vielleicht hatten die Yankees ein Heimspiel. Dann hätte sich die Reise gelohnt. Mit der U-Bahn zum Stadion fahren, Bier trinken, Hot Dogs essen und zusehen, wie die Yankees Cleveland oder Boston die Ärsche aufreißen.

Seine Gedanken schweiften ab, und als er den Faden endlich wiederfand, sah er, daß es viel heller geworden war. Die Uhr am Armaturenbrett stand auf 6:05. Er war eingenickt. Die Ratte war echt gewesen. Die Ratte war wieder da. Die Ratte hatte schon ein richtiges Loch in die Gedärme der toten Katze gefressen. Larrys leerer Magen machte langsam eine Rolle vorwärts. Er überlegte, ob er hupen sollte, um das Tier endgültig zu vertreiben, aber die schlafenden Sandsteinhäuser mit den leeren Mülltonnen, die Wache hielten, schüchterten ihn ein.

Er duckte sich tiefer in den Sitz, damit er der Ratte nicht beim Frühstück zusehen mußte. Nur ein Happen, guter Mann, und dann wieder ins U-Bahn-Netz. Heute abend ins Yankee-Stadion? Vielleicht sehe ich dich, alter Junge. Aber ich bezweifle ernsthaft, ob du mich sehen wirst.

Die Fassade des Gebäudes war mit rätselhaften und geheimnisvollen Graffiti vollgesprüht worden: CHICO 116, ZORRO 93, LITTLE ABIE NR. 1! Als er ein Junge war, vor dem Tod seines Vaters, war dies eine gute Gegend gewesen. Zwei steinerne Hunde hatten die Stufen zur großen Doppeltür hinauf bewacht. Ein Jahr, bevor er an die Küste fuhr, hatten Vandalen den rechten von den Pfoten aufwärts demoliert. Jetzt waren beide weg, abgesehen von der Hinterpfote des linken Hundes. Der Körper, den sie hätte tragen sollen, war nicht mehr an seinem Platz und schmückte jetzt vielleicht die Bruchbude irgendeines puertoricanischen Junkies. Vielleicht hatten die Ratten ihn in einer dunklen Nacht in einen verlassenen U-Bahn-Tunnel geschleppt. Vielleicht hatten sie auch seine Mutter mitgenommen. Er dachte, er sollte wenigstens die Stufen hinaufsteigen und nachsehen, ob ihr Name noch auf dem Briefkasten der Wohnung Nummer 15 stand, aber er war zu müde.

Nein, er würde einfach hier sitzen bleiben, dösen und sich darauf verlassen, daß die Reste der roten Pillen in seinem Körper ihn um sieben Uhr wecken würden. Dann würde er nachsehen, ob seine Mutter noch hier wohnte. Vielleicht wäre es besser, wenn sie nicht mehr da war. Vielleicht würde er dann sogar auf die Yankees verzichten. Vielleicht nur ein Zimmer im Biltmore nehmen, drei Tage schlafen und dann wieder zurück in den goldenen Westen fahren. In diesem Licht, im Nieselregen und mit seinen Kopf- und Beinschmerzen von der langen Fahrt hatte New York den Charme einer toten Hure.

Seine Gedanken schweiften wieder ab, er dachte über die letzten neun Wochen nach und versuchte, einen Schlüssel zu finden, der alles klarmachte und erklärte, wieso man sechs lange Jahre gegen eine Mauer anrennt, in den Clubs spielt, Demo-Bänder macht, sich als Session-Musiker verdingt und so weiter, und es dann plötzlich in neun Wochen schafft. Das gedanklich zu verarbeiten war, als wollte man einen Türknauf verschlucken. Es muß eine Antwort geben, dachte er, eine Erklärung, die es ihm ermöglichte, die häßliche Vorstellung zu verdrängen, daß die ganze Sache nur ein Zufall war, »a simple twist of fate« - eine Laune des Schicksals -, wie Bob Dylan sang.

Mit über der Brust verschränkten Armen döste er tiefer, und es ging ihm immer wieder durch den Kopf, aber jetzt stahl sich etwas Neues hinein, wie ein tiefer und bedrohlicher Kontrapunkt, ein kaum hörbar auf einem Synthesizer gespielter Ton, den man unter Kopfschmerzen wahrnimmt und der einen wie eine böse Vorahnung befällt: die Ratte, die sich in den Körper der toten Katze hineinfrißt, mampf, mampf, und dort etwas sucht, das ihr schmeckt. Das Gesetz des Dschungels, alter Junge, wenn du auf den Bäumen bist, mußt du schwingen...

Es hatte eigentlich vor achtzehn Monaten angefangen. Er hatte mit den Tattered Remnants in einem Club in Berkeley gespielt, und ein Mann von der Columbia hatte angerufen. Kein hohes Tier, nur einer von vielen Wasserträgern der Plattenbranche. Neu Diamond dachte daran, einen von Larrys Songs aufzunehmen, ein Stück mit dem Titel »Baby, Can You Dig Your Man?«

Diamond produzierte ein Album, alles eigene Sachen, außer einem alten Song von Buddy Holly, »Peggie Sue Got Married«, und vielleicht dieses Stück von Larry Underwood. Ob Larry gerne herkommen, ein Demo des Stücks aufnehmen und bei den Aufnahmen dabei sein wollte? Diamond wollte eine zweite akustische Gitarre, und der Song gefiele ihm sehr gut. Larry sagte ja.

Die Session dauerte drei Tage. Schöne Tage. Larry lernte Neu Diamond kennen, Robbie Robertson und Richard Perry. Er wurde auf der Albuminnenseite erwähnt und nach Tarif bezahlt. Aber »Baby, Can You Dig Your Man?« schaffte es nicht auf die Platte. Am zweiten Abend der Session kam Diamond mit einem neuen eigenen Song, und der kam statt dessen ins Album.

Tja, sagte der Mann von der Columbia, zu dumm. Kann vorkommen. Ich will Ihnen mal was sagen - warum nehmen Sie das Demo nicht trotzdem auf? Mal sehen, ob ich was machen kann. Larry machte das Demo und stand wieder auf der Straße. Harte Zeiten in L. A. Er hatte ein paar Sessions, aber nicht viele.

Schließlich fand er einen Job in einem Speiserestaurant, wo er Gitarre spielte und Lieder wie »Softly as I Leave You« und »Moon River« schmachtete, während alte Hasen über Geschäfte redeten und italienische Spezialitäten in sich reinschaufelten. Er schrieb sich die Texte auf kleine Zettel, weil er sie sonst durcheinanderbrachte oder ganz vergaß, in welchem Falle er einfach die Melodie anschlug und dazu »hmmmm-hmmmm, ta-da-hmm« summte, versuchte, Tony Bennets verführerischen Schlafzimmerblick nachzuahmen, und sich dabei wie ein Arschloch vorkam. In Fahrstühlen und Supermärkten war ihm auf morbide Weise klargeworden, was für beschissene Musik ständig gespielt wurde.


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