Seine Mutter hatte beim Redball Truck Stop außerhalb von Arnette Arbeit gefunden - Stu hätte den Laden von seinem Platz aus sehen können, wenn dieser nicht 1979 abgebrannt wäre. Die vier hatten immer genug zu essen gehabt, mehr aber auch nicht. Mit neun Jahren hatte Stu angefangen zu arbeiten, zuerst für Rog Tucker, den Inhaber des Red Ball, hatte nach der Schule für fünfunddreißig Cents die Stunde geholfen, Lastwagen zu entladen, später dann in der Nachbarstadt Braintree auf dem Schlachthof, wo er ein falsches Alter angab, damit er zwanzig Stunden pro Woche zum Mindestlohn Knochenarbeit leisten durfte.

Als er jetzt Hap und Vic Palfrey über Geld und dessen Eigenschaft, auf geheimnisvolle Weise zusammenzuschrumpfen, reden hörte, dachte er daran, wie seine Hände anfangs geblutet hatten, als er die Handwagen mit Häuten und Innereien ziehen mußte. Er hatte versucht, es vor seiner Mutter zu verbergen, aber sie hatte es schon in der ersten Woche gemerkt. Sie hatte geweint, und seine Mutter war keine Frau gewesen, die so schnell weinte. Aber sie hatte ihn nicht gebeten, den Job aufzugeben. Sie war Realistin.

Seine Schweigsamkeit rührte zum Teil daher, daß er nie Freunde, geschweige denn Zeit für sie gehabt hatte. Da war die Schule, und da war die Arbeit. Dev, sein jüngerer Bruder, war in dem Jahr, als Stu im Schlachthof angefangen hatte, an Lungenentzündung gestorben, und darüber war Stu nie ganz hinweggekommen. Schuldgefühle, vermutete er. Er hatte Dev von allen am liebsten gemocht... aber sein Tod hatte auch bedeutet, daß ein Maul weniger zu füttern war.

Auf der High School hatte er angefangen, Football zu spielen, und darin hatte seine Mutter ihn bestärkt, obwohl er nicht mehr so viele Stunden arbeiten konnte. »Du spielst«, sagte sie. »Wenn es eine Fahrkarte hier heraus gibt, dann ist es Football, Stuart. Du spielst. Denk an Eddie Warfield.« Eddie Warfield war eine hiesige Berühmtheit. Er stammte aus einer noch ärmeren Familie als Stu, hatte sich als Quarterback der Mannschaft der High School mit Ruhm bekleckert, war mit einem Sportstipendium an die Texas A&M gegangen und hatte dann zehn Jahre für die Green Bay Packers gespielt, meistens als Ersatzquarterback, aber bei manch merkwürdigem Spiel auch als Starter. Heute besaß Eddie eine Imbißkette im Westen und Südwesten und war in Arnette ein bleibender Mythos geworden. Wenn man in Arnette »Erfolg« sagte, meinte man Eddie Warfield.

Stu war kein Quarterback, und er war kein Eddie Warfield. Aber in seinem ersten Jahr an der High School hoffte auch er auf ein kleines Sportstipendium ... und dann gab es Studienprogramme, und der pädagogische Berater der Schule hatte ihn auf Darlehen der Nationalen Schulbehörde hingewiesen.

Dann war seine Mutter krank geworden und konnte nicht mehr arbeiten. Krebs. Zwei Monate, bevor er die High School abschloß, starb sie, und Stu mußte für seinen Bruder Bryce sorgen. Er verzichtete auf das Sportstipendium und arbeitete in der Taschenrechnerfirma. Bryce lebte jetzt in Minnesota und arbeitete als Systemanalytiker bei IBM. Er schrieb nicht oft, und das letzte Mal hatte Stu ihn gesehen, als seine, Stu's Frau, gestorben war - an derselben Krankheit wie seine Mutter. Er dachte, Bryce mochte seine eigene Schuld zu tragen haben... und Bryce mochte sich sehr wohl der Tatsache schämen, daß sein Bruder jetzt als erfolgloser Mann in einer sterbenden Stadt in Texas lebte, wo er tagsüber seine Stunden in der Taschenrechnerfirma absaß und abends bei Hap oder im Indian Head sein Lone Star Bier trank.

Seine Ehe war noch die beste Zeit gewesen, aber die hatte nur achtzehn Monate gedauert. Der Schoß seiner jungen Frau hatte nur eine einzige dunkle und bösartige Frucht getragen. Das war vor drei Jahren gewesen. Seitdem hatte er daran gedacht, aus Arnette wegzuziehen und sich etwas Besseres zu suchen, aber die Kleinstadtträgheit hielt ihn hier fest - der leise Sirenengesang vertrauter Örtlichkeit und vertrauter Gesichter. Er war in Arnette beliebt, und Vic Palfrey hatte ihm einmal das größte Kompliment gemacht, indem er ihn eine »gute alte Haut« nannte.

Während Vic und Hap weiter diskutierten, war der Horizont noch hell, aber das Land lag schon im Schatten. Auf der 93 fuhren heutzutage nicht mehr viele Autos, und das war einer der Gründe, warum Hap so viele unbezahlte Rechnungen hatte. Aber jetzt sah Stu ein Auto kommen.

Es war noch eine Viertelmeile entfernt, und das letzte Tageslicht warf einen matten Glanz auf das bißchen Chrom, das der Wagen noch hatte. Stu hatte gute Augen und identifizierte ihn als alten Chevrolet, wahrscheinlich Baujahr '75. Ein Chevy ohne Licht, der höchstens fünfzehn Meilen fuhr und über die ganze Breite der Straße schlingerte. Bisher hatte ihn außer Stu keiner gesehen.

»Nehmen wir mal an, du mußt eine Hypothek auf deine Tankstelle abzahlen«, sagte Vic, »sagen wir, fünfzig Dollar im Monat.«

»Ist aber 'ne Stange mehr.«

»Ja, aber nehmen wir mal an, es sind fünfzig. Und nehmen wir an, die Bundesbehörde druckt dir eine ganze Wagenladung Geld. Dann würden die Leute von der Bank daherkommen und hundertfünfzig verlangen. Du wärst genauso arm dran wie vorher.«

»Stimmt«, fügte Henry Carmichael hinzu. Hap sah ihn erbost an. Er wußte zufällig, daß Hank es sich zur Angewohnheit gemacht hatte, Colaflaschen aus dem Automaten zu holen, ohne zu bezahlen; zudem wußte Hank, daß Hap das wußte, und wenn Hank schon für eine Seite Partei ergreifen wollte, dann gefälligst für ihn.

»Nicht unbedingt«, sagte Hap gewichtig aus den Tiefen seiner Schulbildung, die immerhin bis zur neunten Klasse gediehen war. Dann fuhr er mit der Erklärung fort.

Stu, der nur wußte, daß sie in einer verflixten Klemme steckten, drehte Haps Stimme zu einem sinnlosen Murmeln herunter und beobachtete, wie der Chevy schlingernd und bockend die Straße heraufkam. So, wie er fuhr, glaubte Stu nicht, daß er noch weit kommen würde. Er schlingerte über den weißen Mittelstreifen, und die Reifen wirbelten am linken Straßenrand Staub auf. Jetzt schwenkte er wieder nach rechts, blieb kurz auf der richtigen Spur und wäre danach fast in den Straßengraben gekippt. Als hätte der Fahrer das hellerleuchtete Schild der Texaco-Tankstelle plötzlich wie ein Richtfeuer erblickt, kam der Wagen dann wie ein Geschoß, dessen Schub fast verbraucht ist, auf die asphaltierte Fläche zu. Jetzt konnte Stu das unregelmäßige Tuckern des Motors, das konstante Gurgeln und Heulen eines defekten Vergasers und das Klappern loser Ventile hören. Der Wagen verfehlte die Einfahrt und holperte über den Bordstein. Das Licht der Neonröhren über den Zapfsäulen spiegelte sich in der verdreckten Windschutzscheibe, so daß schwer zu erkennen war, was drinnen vor sich ging, aber Stu sah undeutlich die Gestalt des Fahrers, der mit jeder Unebenheit herumgeschleudert wurde. Es sah aus, als würde das Auto seine fünfzehn Meilen pro Stunde gnadenlos beibehalten.

»Ich sage, mit mehr Geld im Umlauf wäre man...«

»Schalt lieber deine Zapfsäulen ab, Hap«, sagte Stu leise.

»Die Zapfsäulen? Was?«

Norm Bruett hatte sich umgedreht und sah zum Fenster hinaus.

»Allmächtiger«, sagte er.

Stu sprang von seinem Stuhl auf, beugte sich über Tommy Wannamaker und Hank Carmichael hinweg und drückte alle acht Schalter auf einmal aus, vier mit jeder Hand. Deshalb war er der einzige, der nicht sah, wie der Chevy die Zapfsäulen auf der oberen Insel rammte und wegrasierte.

Er pflügte so langsam in sie hinein, daß es unerbittlich und irgendwie grandios wirkte. Tommy Wannamaker schwor am nächsten Tag im Indian Head, daß die Bremslichter nicht ein einziges Mal aufgeleuchtet hatten. Der Chevy fuhr die ganze Zeit sein 15-MeilenTempo. Der Unterboden rutschte kreischend über die Betoninsel, und als die Reifen hochprallten, sahen alle außer Stu, wie der Kopf des Fahrers schlaff nach vorn gegen die Windschutzscheibe kippte, die sternförmig zersplitterte.

Der Chevy sprang wie ein alter, getretener Hund und pflügte die Zapfsäule für Super weg. Sie knickte um, rollte einmal um die Achse und vergoß ein paar Tropfen Benzin. Das Ventil, das sich ausgehakt hatte, blitzte unter den Neonröhren.


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