Lange vor der Abfahrt drängeln sich bereits Dutzende von Menschen um den Bus, der zuerst auf dem Dach mit allen möglichen Reiseutensilien beladen wird. Als wir abfahren, ist es stockfinster, und Priscilla schlägt vor zu schlafen. Bis Nairobi seien es sicher neun Stunden, dann müßten wir umsteigen und noch mal fast viereinhalb Stunden bis Narok durchhalten.
Während der langen Fahrt weiß ich bald nicht mehr, wie ich sitzen soll und bin erleichtert, als wir schließlich ankommen. Nun folgt ein langer Fußmarsch. Leicht ansteigend geht es fast zwei Stunden durch Felder, Wiesen, ja sogar Tannenwälder.
Landschaftlich gesehen könnte man meinen, wir seien in der Schweiz, weit und breit nur Grün und keine Menschen.
Endlich sichte ich weit oben Rauch und erkenne einige verfallene Holzbaracken.
„Wir sind gleich da“, sagt Priscil a und erklärt mir, daß sie für ihren Vater noch einen Kasten Bier besorgen müsse, dies sei das Geschenk für ihn. Ich staune nicht schlecht, als sie diesen auch noch auf dem Kopf nach oben schleppt. Ich bin gespannt, wie diese Massai leben, denn Priscilla hat mir erzählt, sie seien wohlhabender als die Samburus, von denen Lketinga abstammt. Oben angekommen gibt es ein großes Hallo. Alle stürzen herbei, begrüßen Priscilla, bleiben dann aber abrupt stehen und schauen mich schweigend an. Priscilla scheint al en zu erzählen, daß wir Freundinnen sind. Als erstes müssen wir in das Haus ihres Bruders, der etwas Englisch spricht. Die Behausungen sind größer als unser Village-Haus und haben drei Räume. Aber alles ist schmutzig und verrußt, weil auf Holzfeuer gekocht wird und überall Hühner, junge Hunde und Katzen umherspringen. Wohin man sieht, tummeln sich Kinder jeden Alters, von denen die größeren die nächst kleineren im Tragetuch auf dem Rücken schleppen. Die ersten Geschenke werden verteilt.
Die Menschen hier sehen nicht mehr sehr traditionel aus. Sie tragen normale Kleidung und leben ein geregeltes Bauernleben. Als die Ziegen nach Hause kommen, muß ich als Gast für unser Willkommensessen eine aussuchen. Ich bringe es nicht über mich, ein Todesurteil zu fäl en, aber Priscüla belehrt mich, daß dies üblich und mit großer Ehre verbunden sei. Wahrscheinlich werde ich das täglich auch bei den folgenden Besuchen machen müssen. Also zeige ich auf eine weiße Ziege, die sofort eingefangen wird. Von zwei Männern wird das arme Tier erstickt. Um das Gezappel nicht länger mit ansehen zu müssen, wende ich mich ab. Es wird bereits dunkel und kühl. Wir gehen ins Haus und setzen uns ans Feuer, das auf dem Lehmboden in einem der Räume brennt.
Wo die Ziege gekocht oder gebraten wird, weiß ich nicht. Um so überraschter bin ich, als mir ein ganzes Vorderbein und dazu ein riesiges Buschmesser gereicht werden. Priscilla bekommt das andere Bein. „Priscil a“, sage ich, „ich habe nicht soviel Hunger, ich kann das unmöglich alles essen!“ Sie lacht und meint, den Rest nehmen wir mit und essen morgen weiter. Die Vorstellung, zum Frühstück bereits wieder an diesem Bein knabbern zu müssen, behagt mir nicht. Aber ich bewahre Haltung und esse wenigstens etwas, wobei ich allerdings wegen meines geringen Hungers bald ausgelacht werde.
Da ich hundemüde bin und mein Rücken extrem schmerzt, möchte ich wissen, wo wir schlafen können. Wir bekommen eine schmale Pritsche, auf der wir zu zweit schlafen sol en. Wasser zum Waschen ist weit und breit nicht zu sehen, und ohne Feuer ist es im Raum enorm kalt. Zum Schlafen ziehe ich mir den Pulli und eine dünne Jacke an. Ich bin sogar froh, daß Priscilla sich neben mich quetscht, denn so ist es etwas wärmer. Mitten in der Nacht erwache ich, spüre ein Jucken und merke, daß diverse Tierchen an mir hoch- und runterkriechen. Ich möchte von der Pritsche springen, aber es ist stockfinster und bitterkalt. Mir bleibt nichts anderes übrig, als so bis zum Morgen zu verharren. Beim ersten Lichtstrahl wecke ich Priscil a und zeige ihr meine Beine. Sie sind übersät mit roten Bißwunden, wahrscheinlich von Flöhen.
Viel ändern können wir nicht, denn Kleider zum Wechseln habe ich nicht. Ich möchte mich wenigstens waschen, aber als ich nach draußen gehe, bin ich verblüfft. Das ganze Gebiet ist in Nebel gehül t, und Reif liegt auf den saftigen Wiesen. Man könnte meinen, bei einem Bauern im Jura zu sein.
Heute ziehen wir weiter, um Priscillas Mutter und ihre Kinder zu besuchen. Wir marschieren über Hügel und Felder und treffen ab und zu Kinder oder ältere Menschen. Während die Kinder Abstand zu mir wahren, möchten mich die meisten älteren Leute, vorwiegend Frauen, berühren. Einige halten lange meine Hand und murmeln etwas, was ich natürlich nicht verstehe. Priscil a sagt, die meisten dieser Frauen hätten noch nie eine Weiße gesehen, geschweige denn berührt. So kommt es vor, daß während des Händedrückens noch darauf gespuckt wird, was eine besondere Ehre sein soll.
Nach etwa drei Stunden erreichen wir die Hütte, in der Priscil as Mutter lebt. Sofort stürzen uns Kinder entgegen und kleben an Priscilla. Ihre Mutter, noch rundlicher als Priscil a, sitzt am Boden und wäscht Kleider. Die beiden haben sich natürlich viel zu erzählen, und ich versuche wenigstens, einen Teil zu erahnen.
Diese Hütte ist die bescheidenste, die ich bisher gesehen habe. Sie ist ebenfalls rund und mit diversen Brettern, Tüchern und Plastik zusammengeflickt. Im Inneren kann ich kaum stehen, und die Feuerstelle in der Mitte erfül t den Raum mit beißendem Rauch. Ein Fenster gibt es nicht. Deshalb nehme ich den Tee im Freien ein, weil mir sonst laufend die Tränen herunterrol en und die Augen schmerzen.
Etwas beunruhigt frage ich Priscilla, ob wir hier nächtigen müssen. Sie lacht: „No, Corinne, ein anderer Bruder wohnt etwa eine halbe Stunde entfernt in einem größeren Häuschen. Da werden wir übernachten. Hier ist kein Platz, weil hier alle Kinder schlafen, und mehr als Milch und Mais gibt es nicht zu essen.“ Erleichtert atme ich auf.
Kurz vor Einbruch der Dunkelheit ziehen wir weiter zum nächsten Bruder. Auch hier erwartet uns eine freudige Begrüßung. Die Leute waren nicht informiert, daß Priscil a kommt und weißen Besuch mitbringt. Dieser Bruder ist mir sehr sympathisch. Endlich kann ich mich gut unterhalten. Auch seine Frau spricht etwas Englisch. Beide haben die Schule besucht.
Dann muß ich mir erneut eine Ziege aussuchen. Ich fühle mich hilflos, denn ich möchte nicht schon wieder das zähe Ziegenfleisch essen. Andererseits habe ich wirklich Hunger und wage zu fragen, ob es noch etwas anderes zu essen gibt, wir Weißen seien es nicht gewohnt, so viel Fleisch zu konsumieren.
Alle lachen, und seine Frau meint, ob ich lieber ein Huhn mit Kartoffeln und Gemüse möchte. Bei diesem herrlichen Menüvorschlag antworte ich begeistert: „O
yes!“
Sie verschwindet und kommt bald darauf mit einem gerupften Huhn, Kartoffeln und einer Art Blattspinat zurück. Diese Massai sind richtige Bauern, haben zum Teil eine Schule besucht und arbeiten hart auf ihren Feldern. Wir Frauen essen gemeinsam mit den Kindern das wirklich gute Mahl. Es ist wie ein Eintopf und schmeckt nach all den gut gemeinten Fleischbergen wunderbar.
Wir bleiben fast eine Woche und machen unsere Besuche von hier aus. Sogar warmes Wasser wird für mich zubereitet, damit ich mich waschen kann. Trotzdem sind unsere Kleider dreckig und stinken fürchterlich nach Rauch. Langsam habe ich genug von diesem Leben und sehne mich nach dem Strand in Mombasa und meinem neuen Bett. Auf meinen Wunsch abzureisen entgegnet Priscilla, wir seien noch auf eine Hochzeitszeremonie eingeladen, die in zwei Tagen stattfindet, und so bleiben wir.
Die Hochzeit findet einige Kilometer entfernt statt. Einer der reichsten Massai soll dort seine dritte Frau heiraten. Ich bin überrascht, daß die Massai offensichtlich so viele Frauen heiraten dürfen, wie sie ernähren können. Mir kommen dabei die Gerüchte über Lketinga in den Sinn. Viel eicht ist er ja wirklich schon verheiratet?