Er packt alles aus, nimmt den Kaugummi in den Mund und entfernt die Blätter von den Stielen. Mit den Zähnen schält er die Rinde von den Stengeln und kaut sie zusammen mit dem Kaugummi. Fasziniert sehe ich ihm zu, wie elegant er das wiederholt mit seinen schönen, schlanken Händen. Auch ich probiere davon, spucke es aber gleich wieder aus, es schmeckt mir viel zu bitter. Ich lege mich aufs Bett, betrachte ihn, halte seine Hand und bin glücklich. Die ganze Welt könnte ich umarmen. Ich bin am Ziel. Ihn, meine große Liebe, habe ich wiedergefunden.

Morgen früh fahren wir nach Mombasa, und ein herrliches Leben wird beginnen.

Ich muß eingeschlafen sein. Als ich wieder erwache, sitzt Lketinga immer noch da und kaut und kaut. Auf dem Boden sieht es mittlerweile wüst aus. Überal liegen Blätter, abgeschälte Stengel und ausgespuckte grüne, zerkaute Klumpen. Er schaut mich mit leicht starrem Blick an und streicht mir über den Kopf: „No problem, Corinne, you tired, you sleep. Tomorrow Safari.“ „And you“, frage ich, „you not tired?“

Nein, erwidert er, vor einer so großen Reise könne er nicht schlafen, deshalb esse er Miraa.

Wie er das sagt, vermute ich, daß dieses Miraa so etwas wie „Mut antrinken“ sein muß, denn Alkohol darf ein Krieger nicht trinken. Ich verstehe, daß er Mut braucht, weil er nicht weiß, was auf uns zukommt und seine Erfahrungen in Mombasa nicht die besten waren. Hier ist seine Welt, und Mombasa ist zwar Kenia, aber eben nicht sein Stammesgebiet. Ich werde ihm schon helfen, denke ich und schlafe wieder ein.

Am nächsten Morgen müssen wir früh los, um im einzigen Bus, der nach Nyahururu fährt, noch Platz zu bekommen. Da Lketinga nicht geschlafen hat, ist dies kein Problem. Ich staune, wie fit er ist und wie spontan er ohne jegliches Gepäck, nur mit seinem Schmuck und Hüfttuch bekleidet, seinen Schlagstock in der Hand, eine so weite Reise antreten kann.

Die erste Etappe liegt vor uns. Lketinga hat das restliche Kraut verstaut und kaut nur noch auf demselben Klumpen herum. Er ist schweigsam. Überhaupt herrscht nicht die gleiche Lebhaftigkeit im Bus wie damals, als Jutta und ich hierher fuhren.

Wieder schaukelt der Bus durch tausend Schlaglöcher. Lketinga hat seinen zweiten Kanga über den Kopf gezogen, nur die Augen stechen noch hervor. So sind seine schönen Haare vor Staub geschützt. Ich halte mir ein Taschentuch vor Nase und Mund, damit ich einigermaßen atmen kann. Etwa auf halber Strecke stößt mich Lketinga an und zeigt auf einen grauen, langen Hügel. Erst beim genauen Hinsehen erkenne ich, daß dies Hunderte von Elefanten sind. Dieses Bild ist gigantisch. Soweit das Auge reicht, ziehen diese Kolosse gemütlich dahin, zwischen ihnen erkennt man Elefantenkinder. Im Bus herrscht wildes Geschnatter. Alle schauen dem Elefantenzug nach. Wie ich erfahre, sieht man so etwas nur ganz selten.

Endlich ist das erste Ziel erreicht, um die Mittagszeit sind wir in Nyaharuru. Wir gehen Chai trinken und essen einen Brotfladen. Eine halbe Stunde später fährt schon der nächste Bus nach Nairobi, wo wir gegen Abend eintreffen. Ich schlage Lketinga vor, hier zu übernachten und am Morgen den Bus nach Mombasa zu nehmen. Er wil nicht in Nairobi bleiben, die Lodgings seien viel zu teuer. Da ich ja alles finanziere, finde ich es rührend und versichere ihm, daß dies kein Problem sei.

Er meint jedoch, Nairobi sei gefährlich und es gebe viel Polizei. Obwohl wir seit sieben Uhr morgens unentwegt im Bus sitzen, will er die längste Strecke ohne Unterbrechung weiterfahren. Doch weil ich merke, wie unselbständig er sich in Nairobi bewegt, willige ich ein.

Wir gehen kurz etwas trinken und essen. Ich bin froh, daß er nun wenigstens mit mir ißt, obwohl er seinen Kanga tief ins Gesicht zieht, damit man ihn nicht erkennt.

Der Busbahnhof ist nicht weit entfernt, und wir gehen die wenigen hundert Meter zu Fuß. Hier in Nairobi schauen sogar die Einheimischen komisch hinter Lketinga her, teils belustigt, teils ehrfürchtig. Er paßt nicht in diese hektische, moderne Stadt. Als mir das bewußt wird, bin ich froh, daß es mit dem Paß nicht geklappt hat.

Endlich haben wir einen der begehrten Nachtbusse bekommen und warten auf die Weiterfahrt. Lketinga holt wieder Miraa hervor und kaut. Ich versuche mich zu entspannen, weil mein ganzer Körper schmerzt. Nur meinem Herzen geht es gut.

Nach vier Stunden, in denen ich mehr oder weniger gedöst habe, hält der Bus in Voi.

Die meisten, auch ich, steigen aus, um ihre Notdurft zu verrichten. Doch als ich das verschissene WC–Loch erspähe, warte ich lieber weitere vier Stunden. Mit zwei Flaschen Cola besteige ich den Bus. Nach einer halben Stunde geht die Reise weiter. Diesmal kann ich nicht mehr einschlafen. Wir rasen auf der schnurgeraden Strecke durch die Nacht. Ab und zu begegnen wir einem Bus, der in die andere Richtung fährt. Autos sieht man nahezu keine.

Zweimal passieren wir eine Polizeisperre. Der Bus muß anhalten, da auf der Fahrbahn Holzbalken mit langen Nägeln liegen. Dann läuft auf jeder Seite ein Polizist mit Maschinenpistole bewaffnet den Bus entlang und leuchtet mit einer Taschenlampe in jedes Gesicht. Nach fünf Minuten geht die nächtliche Fahrt weiter.

Ich weiß bald nicht mehr, wie ich sitzen sol, als ich ein Schild „245 Kilometer bis Mombasa“ erblicke. Gott sei Dank, jetzt ist es nicht mehr so weit bis nach Hause.

Lketinga hat immer noch nicht geschlafen. Offensichtlich hält dieses Miraa wirklich wach. Nur seine Augen sind unnatürlich starr, und Unterhaltung scheint er keine zu benötigen. Ich werde langsam unruhig. Schon rieche ich das Salz in der Luft, die Temperatur wird angenehmer. Von der feuchten Kälte Nairobis ist nichts mehr zu spüren.

Zurück in Mombasa

Kurz nach fünf Uhr früh fahren wir endlich in Mombasa ein. Einige Leute steigen beim Busbahnhof aus. Ich wil auch raus, doch Lketinga hält mich zurück und erklärt, vor sechs Uhr ginge kein Bus an die Küste, wir müßten hier warten, weil es sonst zu gefährlich sei. Jetzt sind wir endlich angekommen, und aussteigen kann man immer noch nicht! Meine Blase zerreißt es fast. Ich versuche, dies Lketinga mitzuteilen.

„Come!“ sagt er und erhebt sich. Wir steigen aus und begeben uns zwischen zwei leere Busse. Da außer ein paar streunenden Katzen und Hunden weit und breit niemand zu sehen ist, leere ich im Schutz der Busse meine Blase. Lketinga lacht, als er meinen „Bach“ bemerkt.

Die Luft ist herrlich an der Küste, und ich frage ihn, ob wir nicht langsam zur nächsten Matatu-Station gehen könnten. Er holt meine Tasche, und wir ziehen in der Morgendämmerung los. Bei einem Wächter, der ein Geschäft bewacht und sich seinen Chai auf einem Kohleöfchen wärmt, bekommen wir sogar unseren Frühstückstee. Dafür gibt Lketinga ihm etwas Miraa. Ab und zu schleichen zerlumpte Gestalten an uns vorbei, die einen still, die anderen lallend. Da und dort liegen Menschen auf Kartons oder Zeitungen am Boden und schlafen. Es ist wirklich noch die Zeit der Gespenster, bevor das geschäftige Treiben beginnt. Doch ich fühle mich ganz und gar sicher in Gegenwart meines Kriegers.

Kurz vor sechs Uhr hupen die ersten Matatus, und nur etwa zehn Minuten später erwacht die ganze Gegend.

Auch wir sitzen wieder in einem Bus zur Fähre. Auf der Fähre überkommt mich erneut ein großes Glücksgefühl. Nun folgt das letzte Stündchen Busfahrt zur Südküste. Lketinga scheint nervös zu werden, und ich frage ihn: „Darling, you are okay?“ „Yes“,

antwortet er und redet dann auf mich ein. Ich verstehe nicht alles, doch will er anscheinend bald herausfinden, welcher Massai meine Briefe gestohlen und wer mir erzählt hat, er wäre verheiratet. Dabei schaut er so finster, daß es mir unbehaglich wird. Ich versuche ihn zu beruhigen, daß dies doch keine Rolle mehr spiele, weil ich ihn gefunden habe. Er erwidert nichts und schaut unruhig zum Fenster hinaus.


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