Bei diesen Nachrichten, die mir Lketinga unerreichbar erscheinen lassen, bin ich völlig verstört: „Jutta, frag ihn, ob es irgendeine Möglichkeit gibt, ihn zu informieren, ich bin auch bereit Geld zu bezahlen.“ Tom denkt nach und meint, er könne übermorgen nacht losgehen mit einem Brief von mir. Vorher müsse er aber seine erst kürzlich geheiratete Frau informieren, sie sei noch völlig fremd hier. Wir vereinbaren einen Geldbetrag, von dem er jetzt die Hälfte bekommt und später, sofern er mit einer Nachricht zurückkehrt, den Rest. Ich diktiere Jutta einen Brief, den sie in Suaheli schreibt. In vier Tagen sollen wir wieder in Maralal sein, sagt der Samburu, denn fal s er Lketinga finde und er mitgehen wolle, seien sie irgendwann im Laufe des Tages hier.
Es sind vier lange Tage, und jeden Abend schicke ich meine Stoßgebete zum Himmel. Am letzten Tag bin ich völlig am Ende mit meinen Nerven. Auf der einen Seite bin ich sehr gespannt, auf der anderen ist mir bewußt, daß ich, wenn es nicht klappt, wieder nach Mombasa reisen und meine große Liebe vergessen muß. Meine Tasche nehme ich bereits mit, weil ich nicht mehr in Juttas Haus, sondern in Maralal übernachten will. Ob mit oder ohne Lketinga, auf jeden Fal verlasse ich morgen dieses Dorf.
Jutta und ich drehen wieder unsere Runden. Nach etwa drei Stunden trennen wir uns, und jede läuft in die entgegengesetzte Richtung, damit wir gesehen werden.
Ununterbrochen bete ich, daß er kommen möge. Auf einer der Runden treffe ich Jutta nicht wie üblich auf halber Strecke. Ich schaue mich um und sehe kein weißes Gesicht. Trotzdem schlendere ich weiter, als plötzlich ein kleiner Junge gerannt kommt und keucht: „Mzungu, Mzungu, come, come!“
Er fuchtelt mit den Armen und zupft mich am Rock. Im ersten Moment denke ich, Jutta sei etwas passiert. Der Junge zieht mich in Richtung des ersten Lodgings, wo ich meine Reisetasche deponiert habe. Er spricht in Suaheli auf mich ein. Vor dem Lodging deutet er hinter das Gebäude.
Glücklich in Maralal
Mit klopfendem Herzen gehe ich in die gewünschte Richtung und schaue um die Ecke. Dort steht er! Mein Massai steht einfach da und lacht mich an, neben ihm Tom.
Ich bin sprachlos. Immer noch lachend streckt er seine Arme nach mir aus und sagt:
„He, Corinne, no kiss for me?“
Erst jetzt erwache ich aus meiner Starre und stürze auf ihn zu. Wir umarmen uns, und für mich bleibt die Welt stehen. Er hält mich etwas von sich ab, blickt mich strahlend an und meint: „No problem, Corinne.“
Bei diesen vertrauten Worten könnte ich heulen vor Freude.
Nun hüstelt Jutta hinter mir und freut sich mit uns: „So, jetzt habt ihr euch wiedergefunden! Ich habe ihn vorhin erkannt und hierher gebracht, damit ihr euch wenigstens begrüßen könnt, ohne daß ganz Maralal dabei ist.“ Herzlich bedanke ich mich bei Tom und schlage vor, daß wir erst einmal Tee trinken und die zwei danach in aller Ruhe Fleisch, soviel sie wol en, auf meine Rechnung essen sol en. Wir gehen in mein gemietetes Zimmer, setzen uns aufs Bett und warten auf das Fleischmenü.
Jutta hat mit Lketinga gesprochen und erklärt, daß er ruhig mit uns essen könne, weil wir keine Samburu-Frauen seien. Darauf unterhält er sich mit dem anderen und wil igt dann ein. Nun ist er also da. Unentwegt muß ich ihn ansehen, und auch er mustert mich mit seinen schönen Augen. Warum er nicht nach Mombasa gekommen sei, möchte ich wissen. Tatsächlich hat er keinen Brief von mir erhalten. Er habe zweimal wegen des Passes nachgefragt, doch der Beamte habe ihn nur ausgelacht und schikaniert. Dann seien die anderen Krieger ihm gegenüber komisch geworden und wollten ihn nicht mehr mittanzen lassen. Da er ohne Tanzen kein Geld mehr verdienen konnte, sah er keinen Grund, länger an der Küste zu bleiben. So sei er nach etwa einem Monat nach Hause gefahren. Er habe nicht mehr geglaubt, daß ich zurückkomme. Einmal habe er mit mir aus dem Africa-Sea-Lodge-Hotel telefonieren wollen, aber niemand habe ihm geholfen, und der Manager habe gesagt, das Telefon sei nur für Touristen.
Einerseits bin ich gerührt, als ich erfahre, was er al es versucht hat, andererseits bekomme ich eine richtige Wut auf seine sogenannten „Freunde“, die ihm nur geschadet statt geholfen haben. Als ich ihm erzähle, daß ich in Kenia bleiben und nicht mehr in die Schweiz zurück wil, sagt er: „It's okay. You stay now with me!“
Glücklich versuchen wir, uns zu unterhalten, als Jutta und der Bote uns verlassen.
Lketinga bedauert, wir könnten nicht zu ihm nach Hause, da Trockenzeit sei und Hungersnot herrsche. Außer etwas Milch gebe es nichts zu essen, und ein Haus sei auch nicht vorhanden. Ich erkläre ihm, mir sei alles recht, wenn wir nur endlich Zusammensein können. So schlägt er vor, zuerst nach Mombasa zu fahren. Sein Zuhause und seine Mutter könne ich später kennenlernen, aber seinen kleinen Bruder James, der in Maralal die Schule besucht, wil er mir unbedingt vorstellen. Er ist der einzige aus der Familie, der zur Schule geht. Ihm könne er sagen, daß er mit mir in Mombasa sei, und wenn James in den Schulferien nach Hause zur Mutter gehe, könne er sie informieren. Die Schule liegt etwa einen Kilometer außerhalb des Dorfes. In der Schule geht es streng zu. Auf dem Schulhof sind Mädchen und Knaben getrennt. Alle sind gleich angezogen, die Mädchen in einfachen, blauen Kleidern, die Knaben in blauen Hosen und hellem Hemd. Etwas abseits warte ich, während Lketinga langsam auf die Jungen zugeht. Bald starren alle auf ihn, dann auf mich. Er spricht mit ihnen, und einer läuft los und kommt mit einem anderen zurück.
Dieser geht auf Lketinga zu und begrüßt ihn respektvoll. Nach einer kurzen Unterhaltung kommen beide zu mir. James streckt mir seine Hand entgegen und begrüßt mich freundlich. Ich schätze ihn auf etwa sechzehn Jahre. Er spricht sehr gut Englisch und bedauert, daß er nicht ins Dorf mitkommen kann, denn jetzt sei nur eine kurze Pause, und abends gebe es keinen Ausgang, lediglich an den Samstagen etwa zwei Stunden. Der Headmaster sei sehr streng. Schon läutet die Glocke, und in Windeseile sind alle wieder verschwunden, auch James.
Wir gehen ins Dorf zurück, und ich hätte nichts dagegen, wenn wir uns ins Lodgingzimmer verziehen würden. Aber Lketinga wendet lachend ein: „Hier ist Maralal, nicht Mombasa.“ Anscheinend gehen Mann und Frau nicht zusammen ins Zimmer, bevor es dunkel ist, und selbst dann noch möglichst unauffällig. Nicht, daß ich mich so sehr nach Sex sehne, ich weiß ja, wie er abläuft, aber etwas Nähe nach all den Monaten könnte ich gut vertragen.
Wir schlendern durch Maralal, wobei ich etwas Abstand halte, da sich dies anscheinend gehört. Ab und zu spricht er mit einigen Kriegern oder Mädchen.
Während mich die Mädchen, alle sehr jung und schön geschmückt, nur schnell mit einem neugierigen Blick streifen und dann verlegen kichern, starren mich die Krieger länger an. Es wird geredet, wohl meistens über mich. Mir ist das etwas unangenehm, da ich nicht deuten kann, was hier abläuft. Ich kann es kaum erwarten, daß es endlich Abend wird.
Auf dem Markt kauft Lketinga sich ein Plastikbeutelchen mit rotem Farbpulver. Er zeigt dabei auf seine Haare und seine Kriegsbemalung. An einem anderen Stand verkauft jemand grüne Stengelchen mit Blättern daran. Sie sind zusammengebunden zu Bündeln von etwa zwanzig Zentimetern Länge. Hier herrscht richtiges Gezänk zwischen fünf oder sechs Männern, die das Zeug begutachten.
Auch Lketinga steuert auf diesen Stand zu. Schon nimmt der Verkäufer Zeitungspapier und wickelt zwei Bündel ein. Lketinga zahlt einen stattlichen Preis dafür und läßt das Paket schnel unter seinem Kanga verschwinden. Auf dem Weg zum Lodging kauft er mindestens zehn Kaugummis. Erst im Zimmer frage ich nach diesem Kraut. Er strahlt mich an: „Miraa, it's very good. You eat this, no sleeping!“