»Weise Worte«, sagte Ben.

José erwähnte nicht, dass es die Worte seines Vaters waren.

»Interessant, dass du von der Isla Maldita sprichst«, fuhr Ben fort. »Gerade heute haben wir über sie gesprochen. Sie ist nicht bewohnt, nicht wahr? Die Männer von einem der Patrouillenboote schwören, sie hätten Rauch von der Insel aufsteigen sehen.«

»Jaja«, sagte José und verbiss sich ein Grinsen. »Dort gehen irgendwelche alten Piratengeister um.«

»Vielleicht gehen auch ein paar Leute um, die sich zu sehr für unsere Pläne auf den Inseln interessieren.«

José trat seine Zigarette ebenfalls aus. »Deutsche«, sagte er.

Eine Weile schwiegen sie. Irgendwo zirpten Zikaden. Der Wind spielte in der Takelage der Schiffe im Hafen. Jetzt wird er gehen, dachte José, und ich habe nichts über das Fliegen gesagt und die Gelegenheit ist beinahe vorüber. Aber was konnte er sagen? Wie konnte er Ben erklären, dass er fliegen musste? Dass es das Wichtigste auf der Welt war? Dass der Himmel dort oben ihn rief, selbst dieser nächtliche Himmel? Er holte tief Luft.

»Geben Sie mir eine Chance«, sagte er. »Was muss ich tun, damit Sie mich mit in die Luft nehmen?«

Ben lachte leise. Er nahm ihn also doch nicht ernst. »Wie wäre es, wenn du zur Isla Maldita schwimmst und herausfindest, was dort wirklich geschieht?«

José ließ eine ganze Weile verstreichen, ehe er antwortete. Eine Idee hatte begonnen, sich in seinem Kopf zu formen, und er wartete, bis sie greifbar war. »Schwimmen«, sagte er schließlich, »werde ich nicht.«

Am nächsten Morgen war Juan Casafloras Boot verschwunden. Und eine Menge Leute hatten eine Menge Theorien. Über Juan Casaflora hatten immer eine Menge Leute eine Menge Theorien gehabt. Es dauerte zwei Tage, bis Ben Miller eine eigene Theorie entwickelte. Und da war es vielleicht zu spät. Da war schon jemand dem Boot gefolgt, der eine ganz andere Theorie hatte als Ben.

Lied der Pinguine

Wenn wir gehen, siehst du uns schwanken,

als wären wir tief in Gedanken.

So watscheln wir über die Hügel,

unsre kurzen Stummelflügel

sind nicht zum Fliegen gemacht.

Ihr lacht!

Nein, wir sind noch nie geflogen,

doch dafür stets gut angezogen.

Wir legen in Nester aus Stein

ein einziges Ei hinein.

Ein Ei voller Träume, ein Hirngespinst.

Ihr grinst!

Man fängt uns leicht, hier auf dem Land.

Wir sind nicht schnell. Nicht elegant.

Und doch tut mancher, als wäre er wer,

und wedelt die Flügel hin und her

wie ein feiner Herr, der sich Luft zufächelt.

Ihr lächelt!

Aber begegnet ihr uns im Meer,

da sieht die Sache ganz anders aus!

Im Meer sind wir nicht mehr träge und schwer,

wir schwimmen mühelos weit, weit hinaus,

wir tauchen so tief, wie kein Mensch es vermag,

wir flitzen wie Pfeile die Küste entlang,

hell wie die Strahlen der Sonne am Tag,

schnell wie ihr Untergang.

Wir lassen all unser Gewicht am Strand

und unsre Melancholie an Land.

Eben noch hier, sind wir schon dort,

eben noch nah, sind wir schon fort.

Ihr bleibt mit offenem Mund zurück.

Ein Glück.

Die geheime Reise der Mariposa i_006.jpg

La grandeza del muerte

Die Großartigkeit des Todes

Es war, als hätte die Mariposa auf José gewartet. Er betrat sie leise, ungehört von den Besitzern der anderen Boote im Hafen. Niemand sah ihn.

Unter Deck fand er mehrere große Kanister mit Trinkwasser und mit Benzin, einen Gaskocher und Dosen mit eingemachten Nahrungsmitteln. Juan Casaflora hatte sich auf eine lange Reise eingerichtet. Und er hatte, dachte José, eine noch längere angetreten: eine Reise zu einem Ort, den niemand kannte. Ins Jenseits. Er, José, hatte ein anderes Ziel: die Isla Maldita.

Der Amerikaner, Ben, er hatte seine Worte nicht ernst gemeint, natürlich nicht. Er hatte sich über ihn lustig gemacht, genau wie sie alle. Bald würde sich niemand mehr über ihn lustig machen. Er würde es schaffen. Er würde zur Isla Maldita segeln, ganz allein, und für sie herausfinden, was dort vor sich ging. Und dann würde Ben sein Versprechen halten müssen. José würde fliegen.

Er ging noch einmal zurück zu den Baracken, um seinen Rucksack und etwas Brot zu holen, rasch, rasch, leise, leise – alles war still dort. Er bemühte sich, das Gesicht seines schlafenden Vaters nicht zu lange anzusehen. Als er zum zweiten Mal in dieser Nacht auf das Deck der Mariposa sprang, schaukelte sie sacht, als wollte sie ihn begrüßen.

»Gutes altes Mädchen«, flüsterte José, während er sich an der Reling entlangtastete. »Ich brauche dich, und du brauchst mich, denn ein Boot ohne Skipper ist ein totes Boot, tot wie dein Juan Casaflora.«

José brauchte das Vorsegel der Mariposa nur auszurollen, ein Zug an der richtigen Leine und es entfaltete sich hell in der dunklen Nacht. Im Licht einer Streichholzflamme machte er die Leinen los und weckte das Schiff aus seinem Schlaf. Er kümmerte sich nicht ums Großsegel, das Vorsegel musste reichen, bis er genug Ruhe und Licht hatte, um sich mit den Tauen und Segeln, den Klemmen und Klampen und Rollen und Segeln der Mariposa vertraut zu machen. Soweit er es beurteilen konnte, war die Mariposa mit allem ausgestattet, was ein Schiff brauchte – allem außer einem Funkgerät. Aber er würde kein Funkgerät brauchen. Seine Reise war eine geheime, niemand brauchte davon zu wissen. Er steuerte die Mariposa mit einem Gefühl der Glückseligkeit durch die Nacht; geräuschlos glitt der schlanke Holzkörper an den anderen Schiffen vorbei, hinaus aus der schützenden Bucht, und dann brach der Himmel auf, und der Mond goss sein Licht ins Meer gleich Milch in Kaffee. Der Milchpazifik verfärbte sich unwirklich weiß wie im Traum. Erst ein gutes Stück vor der Küste von Baltra entzündete José die Bordlaternen, Grün und Rot für Steuerbord und Backbord, Weiß am Bug und Weiß am Heck. Er hatte ungesehen losfahren wollen, aber er hatte keine Lust, draußen in der Nacht mit irgendeinem anderen Schiff zusammenzustoßen.

Er war kein Dummkopf. Er war José Julio Fernandez. Ein Mann. Kein Kind.

Er sah zu den Sternbildern empor, die über ihm glitzerten wie merkwürdig geformte Perlenketten, und prägte sich den Kurs ein, den er fahren musste. Es war nicht schwer. Er war oft nachts mit den Fischern von Isabela hinausgefahren, und er war schon als Kind immer wieder von der Farm entwischt, um den weiten Weg zur Küste zu laufen, wo die Segler anlegten. Silvio hatte ihn am häufigsten mitgenommen. José und der Pazifik waren alte Bekannte.

Eine Weile stand er ganz still am Heck der Mariposa und versuchte die Nacht in sich aufzunehmen: die erste Nacht auf dem Meer, die ihm allein gehörte.

In der Ferne tauchten die Lichter eines anderen Schiffs auf, eines großen Schiffs, und im Mondlicht erkannte er es: Es war die Isabelita, deren Heimatinsel auch Josés Insel war. Isabela. Er hob die Hand zu einem stummen Gruß. Er war froh, dass er die Positionslichter gesetzt hatte. Sie würden sich natürlich fragen, was für ein Schiff das war, das ihnen um diese Zeit entgegenkam.

»Das Schiff eines Toten«, flüsterte José. Die Worte zitterten in der Nacht.

Es waren die verkehrten Worte, sie riefen die Angst aus den dunklen Tiefen der See herauf, wo sie lauerte – zusammen mit den unbekannten Geschöpfen, deren Namen unaussprechlich und undenkbar waren. Die Abuelita hatte nur wispernd von ihnen erzählt, riesig sollten sie sein und schrecklich, voller Tentakel, voll spitzzähniger Mäuler und tödlicher Stachel …

»Nein. Es ist nicht das Schiff eines Toten«, sagte José laut. »Es ist jetzt mein Schiff.«


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