»Dein inneres Licht«, sagte er, als hätte er gemerkt, daß sie nichts verstanden hatte.

Inneres Licht. Na, da lag er aber gründlich daneben, dieser naive Maler, der trotz seiner dreißig Jahre noch nichts vom Leben wußte. Es war eben doch so: Frauen reiften schneller als Männer, und Maria – die zwar viel über das Leben nachdachte, dabei aber unbeschwert und nüchtern blieb, sagte sich, daß sie bestimmt kein besonderes ›Licht‹ besaß, wie der Maler behauptete. Vielleicht meinte er ihre besondere Ausstrahlung. Sie war ein Mensch wie viele andere, die unter ihrer Einsamkeit litten und ihr Leben vor sich zu rechtfertigen suchten. Sie gab vor, stark zu sein, wenn sie schwach war, gab vor schwach zu sein, wenn sie sich stark fühlte; sie hatte jegliche Form von Leidenschaft von sich ferngehalten – und all das nur, um ihre Arbeit einigermaßen unbeschadet zu überstehen. Aber jetzt, kurz vor dem Ziel, hatte sie Pläne für die Zukunft und Gewissensbisse wegen der Vergangenheit – so jemand hat kein ›besonderes Leuchten‹. Vielleic ht wollte der Maler sie damit nur zum Schweigen und Stillsitzen bringen und dazu, sich vor ihm zum Narren zu machen.

›Inneres Licht‹. Er hätte etwas anderes sagen können, wie zum Beispiel, ›du hast ein schönes Profil‹.

Wie gelangt Licht in ein Haus? Wenn die Fenster geöffnet sind. Wie gelangt Licht in einen Menschen? Wenn das Tor der Liebe geöffnet ist. Und ihres war definitiv nicht geöffnet. Er mußte ein schlechter Maler sein, er verstand überhaupt nichts.

»Das war's, ich bin fertig«, sagte er und begann sein Material einzusammeln.

Maria rührte sich nicht. Sie hätte sich gern das Bild angesehen, wollte aber nicht aufdringlich sein. Die Neugier siegte. Er hatte nur ihr Gesicht gezeichnet; er hatte sie gut getroffen. Doch hätte sie nicht gewußt, daß sie Modell gesessen hatte, hätte sie es für das Porträt einer sehr starken Persönlichkeit gehalten, die von einem ›Licht‹ erfüllt war, wie sie es an sich nie gesehen hatte.

»Ich heiße Ralf, Ralf Hart. Wenn du willst, spendiere ich dir noch einen Drink.«

»Nein, danke.«

Offenbar verlief die Begegnung genauso traurig, wie sie es vorhergesehen hatte: Ein Mann versucht, eine Frau zu verführen.

»Bitte noch zwei Pastis«, bestellte er trotzdem.

Hatte sie etwas Besseres vor? Etwa ein langweiliges Buch über Landwirtschaft zu lesen? Zum x-ten Mal am See spazierenzugehen? Oder mit jemandem zu reden, der in ihr ein Licht sah, von dem sie nichts wußte, und zwar genau an dem Tag, den sie in ihrem Kalender als Beginn der Endphase ihrer ›Erfahrung‹ angekreuzt hatte.

»Was machst du?«

Das war die Frage, die sie jedesmal, wenn sie mit jemandem ins Gespräch kam (was mit Schweizern aufgrund ihrer sprichwörtlichen Diskretion selten passierte), am liebsten überhörte. Was sollte sie darauf erwidern?

»Ich arbeite in einem Nachtclub.«

Jetzt war's heraus. Ein Zentnergewicht fiel von ihr ab und sie war zufrieden mit sich, weil sie gelernt hatte, zu fragen (›wer sind die Kurden?‹, ›was ist der Jakobsweg?‹) und zu antworten (›ich arbeite in einem Nachtclub!‹), ohne sich darum zu scheren, was die anderen von ihr denken mochten.

Maria spürte, daß er weiterfragen wollte, und genoß ihren kleinen Sieg; der Maler, der ihr ein paar Minuten zuvor noch Befehle erteilt hatte und genau zu wissen schien, was er wollte, war nun ein Mann wie jeder andere, voller Fragen angesichts einer Frau, die er nicht kannte.

»Und diese Bücher?«

Sie zeigte sie ihm. Landwirtschaft. Der Mann blickte noch fragender.

»Bist du Sexarbeiterin?«

Er hatte es gewagt. Etwa, weil sie sich wie eine Prostituierte kleidete? Sie mußte unbedingt Zeit gewinnen. Das, was jetzt begann, schien ein interessantes Spiel zu werden, ein Spiel, bei dem sie nichts zu verlieren hatte.

»Warum denken Männer nur an das eine?«

Er legte die Bücher auf den Tisch zurück.

»Sex und Landwirtschaft. Beides langweilig.«

Wie bitte? Plötzlich fühlte sie sich herausgefordert. Wie konnte er so schlecht über ihren Beruf reden? Er wußte wohl nicht, was genau sie machte, hatte nur eine vage Ahnung, aber sie durfte ihm keine Antwort schuldig bleiben.

Malerei; etwas Statisches, eine unterbrochene Bewegung, ein Foto, das dem Original nie genau entspricht. Ein toter Gegenstand, für den sich niemand mehr interessiert außer den Malern selbst – gebildeten Wichtigtuern, die nicht mit der Zeit gegangen sind. Hast du schon einmal von Joan Miro gehört? Ich nicht, oder vielmehr erst vor kurzem, in einem Restaurant, und ich kann nicht sagen, daß dies mein Leben entscheidend verändert hätte.«

Sie wußte nicht, ob sie zu weit gegangen war – denn die Drinks kamen, und das Gespräch wurde unterbrochen. Beide schwiegen minutenlang. Maria dachte, daß es Zeit war zu gehen, und vielleicht hatte Ralf Hart dasselbe gedacht. Aber die zwei vollen Gläser mit diesem gräßlichen Getränk lieferten einen Vorwand, weiter zusammenzubleiben.

»Warum das Buch über Landwirtschaft?«

»Was willst du damit sagen?«

»Ich war schon in der Rue de Berne. Als du gesagt hast, was du machst, habe ich mich erinnert, daß ich dich schon einmal gesehen habe: in diesem teuren Nachtclub. Dennoch ist es mir beim Zeichnen vorhin nicht eingefallen: Dein Licht war zu stark.«

Maria hatte das Gefühl, daß der Boden unter ihren Füßen sich auftat. Zum ersten Mal schämte sie sich für ihre Tätigkeit, obwohl sie nicht den geringsten Grund dafür hatte. Sie arbeitete, um sich und ihre Familie zu ernähren. Aber er sollte sich dafür schämen, daß er in die Rue de Berne ging! Von einem Augenblick auf den anderen war der ganze Zauber verflogen.

Monate in der Schweiz. Ich weiß, wie diskret die Schweizer sind, weil sie in einem kleinen Land leben, in dem jeder jeden kennt. Darum kümmert sich auch keiner um das, was der andere macht. Deine Bemerkung war unangebracht und sehr unhöflich, aber falls es deine Absicht war, mich zu erniedrigen, um dich besser zu fühlen, dann verlierst du nur deine Zeit. Vielen Dank für den Pastis, er schmeckt grauenhaft. Trotzdem werde ich ihn austrinken und danach noch eine Zigarette rauchen. Du aber kannst sofort gehen, denn für berühmte Maler schickt es sich nicht, mit einer Hure am selben Tisch zu sitzen. Denn genau das bin ich, weißt du? Eine Hure. Ohne das geringste Schuldgefühl, von Kopf bis Fuß eine Hure. Und darin liegt meine Tugend: daß ich weder mir noch dir etwas vormache. Denn es lohnt sich nicht, und du hast es auch nicht verdient, daß ich dich belüge. Glaubst du, der berühmte Chemiker am anderen Ende des Cafes hat nicht gesehen, was ich bin?« Ihre Stimme wurde lauter. »Eine Hure! Und weißt du, was? Das gibt mir ein Gefühl von Freiheit – zu wissen, daß ich dieses verdammte Land in genau neunzig Tagen verlassen werde, mit vo llem Portemonnaie, sehr viel weltgewandter als bei meiner Ankunft und durchaus in der Lage, einen guten Wein auszuwählen, mit einem Koffer voller Fotos von mir im Schnee und als jemand, der die Männer kennt.«

Das Mädchen am Tresen spitzte erschrocken die Ohren. Der Chemiker verzog keine Miene. Aber vielleicht lag es auch am Alkohol, oder daran, daß sie bald schon wieder in ihrer brasilianischen Kleinstadt sein würde. Vielleicht genoß sie es auch einfach, sagen zu können, wie sie ihr Geld verdiente, und über die schockierten Reaktionen, die kritischen Blicke, das empörte Kopfschütteln zu lachen.

»Du hast richtig gehört? Eine Hure, nichts anderes und das ist meine Tugend!«

Er sagte nichts. Rührte sich nicht. Und Maria redete selbstbewußt weiter: »Du bist ein Maler, der nichts von seinen Modellen versteht. Vielleicht ist der Chemiker, der da verschlafen in der Ecke sitzt, ja in Wahrheit ein Eisenbahner. Und alle anderen Personen auf deinem Bild sind auch nicht, was sie zu sein vorgeben. Sonst hättest du nie sage n können, daß du in mir ein ›besonderes, inneres Licht‹ siehst – ausgerechnet in mir, einer HURE!«

Die letzten Worte hatte sie laut und sehr langsam ausgesprochen. Der Chemiker fuhr zusammen, die Kellnerin brachte die Rechnung.

»Das hat überhaupt nichts damit zu tun, daß du eine Prostituierte bist, sondern mit der Frau, die du bist.« Ralf übersah die Rechnung und sagte ebenfalls langsam, aber mit leiser Stimme: »Du hast ein Leuchten. Es kommt von deinem starken Willen, deiner Kraft, wie sie nur Menschen haben, die bereit sind, zur Verwirklichung ihrer Ziele große Opfer zu bringen. Deine Augen – dieses Licht zeigt sich in deinen Augen.«

Maria fühlte sich entwaffnet; er hatte sich nicht provozieren lassen. Sie wollte glauben, daß er sie verführen wollte, nichts weiter. Sie durfte nicht denken – zumindest nicht in den nächsten neunzig Tagen –, daß es interessante Männer auf der Welt gab.

»Siehst du diesen Pastis da vor dir?« fuhr er fort. »Du siehst nur einen Pastis. Ich hingegen, der ich in das hineinschauen muß, was ich male, sehe die Pflanze, aus der er gemacht ist, die Stürme, denen die Pflanze getrotzt hat, die Hand, die die Aniskörner geerntet hat, deren Reise bis hierher, rieche den Duft des Anises und sehe seine Farbe, ehe er dem Alkohol hinzugefügt wurde. Wenn ich eines Tages diese Szene male, ist das alles auch in dem Bild enthalten, obwohl du dann meinst, nur ein gewöhnliches Glas Pastis vor dir zu haben. Ebenso wie ich vorhin, als du auf die Gasse hinausgesehen und an den Jakobsweg gedacht hast – denn ich weiß, woran du dachtest –, auch deine Kindheit, Jugend, deine zerronnenen Träume, deine Pläne gemalt habe und deine Kraft – die hat mich am meisten verwirrt. Als du das Bild gesehen hast…«

Maria schwieg. Innerlich öffnete sie einen Spaltbreit ihr Visier, obwohl sie wußte, wie schwierig es werden würde, es später wieder zu schließen.

»Ich habe dieses Licht gesehen… auch wenn dort nur eine Frau war, die dir ähnlich sah.«

Wieder dieses peinliche Schweigen. Maria schaute auf die Uhr. »Ich muß bald gehen. Warum hast du gesagt, daß Sex langweilig ist?«

»Das solltest du besser wissen als ich.«

»Ich weiß es, weil es mein Arbeitsgebiet ist. Und weil ich jeden Tag das gleiche mache. Aber du mit deinen dreißig Jahren…«

»Neunundzwanzig…«

»…jung, gutaussehend, berühmt, der noch an diesen Dingen interessiert sein und es nicht nötig haben sollte, in die Rue de Berne zu gehen.«

»Ich hatte es aber nötig. Ich bin mit einigen deiner Kolleginnen ins Bett gegangen. Allerdings nicht, weil ich Probleme habe, eine Frau zu finden. Das Problem liegt woanders.«

Maria spürte ein Quentchen Eifersucht und war entsetzt. Sie merkte, daß sie jetzt wirklich gehen mußte.

»Es war mein letzter Versuch. Jetzt habe ich aufgegeben«, sagte Ralf, während er das auf dem Boden verstreute Material zusammensammelte.


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