»Hast du ein körperliches Problem?«
»Überhaupt nicht. Nur Desinteresse.«
Unmöglich.
»Dann zahl die Rechnung und laß uns dann Spazierengehen!
Ich glaube, es geht vielen so, und niemand spricht es aus. Es tut gut, mit jemandem zu reden, der so ehrlich ist wie du.«
Sie gingen den ›Jakobsweg‹ entlang, hinunter zum See einen Weg, der quer durch die Berge führte und an einem fernen Ort in Spanien endete. Sie begegneten Leuten, die vom Mittagessen kamen, Müttern mit ihren Kinderwagen, Touristen, die Fotos von der schönen Fontäne im See machten, muslimischen Frauen mit Kopftuch, joggenden Jungen und Mädchen – sie alle Pilger auf dem Weg zu der legendären Stadt Santiago de Compostela, die es vielleicht nicht einmal gab und an welche die Menschen glaubten, damit ihr Leben ein Ziel und einen Sinn hatte. Diesen von so vielen Menschen ausgetretenen Weg gingen nun dieser Mann mit den langen Haaren und dem schweren Beutel voller Farben, Leinwände, Stifte und die etwas jüngere Frau mit einem Beutel voller Bücher über Landwirtschaft. Keinem der beiden fiel ein, sich zu fragen, warum sie gemeinsam diese Wallfahrt machten. Es kam ihnen ganz natürlich vor. Er wußte alles über sie, und sie wußte nichts über ihn.
Und deshalb beschloß sie zu fragen. Anfangs tat er etwas bescheiden, aber sie wußte, wie man einen Mann zum Reden bringt, und da erzählte er ihr, daß er (ein Rekord bei neunundzwanzig Jahren) zweimal verheiratet gewesen, viel gereist war, berühmte Schauspieler und gekrönte Häupter kennengelernt und unvergeßliche Feste gefeiert hatte. Er war in Genf geboren, hatte in Madrid, Amsterdam, New York und in Südfrankreich in einer Stadt namens Tarbes gelebt, die in den wenigsten Touristenführern vorkam, die er aber wegen ihrer Nähe zu den Bergen und der Gastfreundschaft ihrer Einwohner liebte. Sein künstlerisches Talent war entdeckt worden, als er zwanzig Jahre alt war. Ein großer Kunsthändler hatte zufällig in einem japanischen Restaurant in Genf gegessen, dessen Inneneinrichtung von ihm gestaltet worden war. Er hatte viel Geld verdient, war jung und gesund, konnte tun, was er wollte, fahren, wohin er wollte, treffen, wen er wollte. Er hatte schon alle weltlichen Genüsse erlebt, die ein Mann erleben kann, ging in seinem Beruf auf; und dennoch, trotz alledem, trotz Ruhm, Geld, Frauen, Reisen, war er unglücklich, hatte er nur eine Freude im Leben: seine Malerei.
»Haben die Frauen dir so weh getan?« fragte sie und merkte sofort, wie töricht die Frage war, wie aus einem Handbuch mit dem Titel Wie erobere ich einen Mann?.
»Nein, sie haben mir nie weh getan. Ich war in beiden Ehen glücklich. Ich wurde betrogen und habe betrogen, wie es in jeder normalen Ehe vorkommt. Dennoch hat mich der Sex nach einer Weile nicht mehr interessiert. Ich liebte meine Frauen immer noch, sie fehlten mir, wenn sie nicht da waren, aber Sex – warum reden wir überhaupt über Sex?«
»Weil ich, wie du selbst gesagt hast, eine Prostituierte bin.«
»Mein Leben ist nicht besonders interessant. Ein Künstler, der schon früh Erfolg hatte, was schon an sich sehr selten vorkommt und in der Malerei noch seltener. Der heute jede Art von Bildern malen und damit viel Geld verdienen kann – auch wenn sich die Kritiker noch so sehr darüber entrüsten, weil sie glauben, nur sie wüßten, was Kunst ist. Jemand, von dem alle glauben, er habe für alles eine Antwort parat! Je weniger ich sage, für um so weiser hält man mich.«
Jede Woche, erzählte er weiter, war er irgendwo auf der Welt eingeladen. Er hatte eine Agentin in Barcelona (ob Maria wisse, wo das liege? Ja, in Spanien). Sie kümmerte sich um alles Finanzielle, um Einladungen, Ausstellungen, drängte ihn aber nie zu etwas, wozu er keine Lust hatte, denn nach so vielen Jahren der Zusammenarbeit hatten sie eine gewisse Stabilität auf dem Markt erreicht.
»Langweile ich dich auc h nicht mit meiner Geschichte?« Seine Stimme klang etwas verunsichert.
»Ich würde sagen, es ist eine recht ungewöhnliche Geschichte. Viele Menschen würden gern in deiner Haut stecken.«
Ralf wollte mehr über Maria erfahren.
»Ich bin drei, je nachdem, wer mich besucht. Das naive Mädchen, das bewundernd zu den Männern hochblickt und andächtig ihren Geschichten über Macht und Ruhm lauscht. Die Femme fatale, die sich sofort die Schüchternen und Unsicheren greift und das Heft in die Hand nimmt, die diesen Männern ein Gefühl von Ungezwungenheit gibt, weil sie sich um nichts mehr kümmern müssen. Und schließlich die liebevolle Mutter, die alles versteht und sich geduldig allerlei Geschichten anhört, die sie sofort wieder vergißt. Welche der drei möchtest du kennenlernen?«
»Dich.«
Maria erzählte und erzählte, zum ersten Mal, seit sie ihre Heimat verlassen hatte. Es war ihr ein Bedürfnis. Dabei merkte sie plötzlich, daß außer der Woche in Rio und dem ersten Monat in der Schweiz trotz ihres nicht gerade konventionellen Berufs nichts wirklich Aufregendes in ihrem Leben passiert war. Nichts als Wohnung, Arbeit, Wohnung, Arbeit.
Als sie fertig erzählt hatte, saßen sie wieder in einem Cafe auf der anderen Seeseite, fern vom Jakobsweg, und jeder dachte über das Schicksal des anderen nach.
»Fehlt dir etwas?« fragte sie.
»Das Wort für ›auf Wiedersehen‹.«
Ja. Denn es war kein gewöhnlicher Nachmittag gewesen. Sie fühlte sich bang, angespannt, weil sie eine Tür aufgestoßen hatte und jetzt nicht wußte, wie sie sie wieder schließen konnte.
»Wann kann ich das Bild sehen?«
Ralf reichte ihr die Visitenkarte seiner Agentin in Barcelona.
»Ruf sie in einem halben Jahr an, wenn du dann noch in Europa bist. ›Die Gesichter Genfs‹, berühmte und anonyme Menschen, wird zuerst in einer Galerie in Berlin ausgestellt werden. Danach soll das Bild in ganz Europa gezeigt werden.«
Maria mußte an ihren Kalender denken, an die verbleibenden neunzig Tage, in denen jede Beziehung, jede Bindung eine Gefahr darstellen konnte.
›Was ist wichtiger im Leben?‹ überlegte sie. ›Richtig leben oder so tun als ob? Es jetzt wagen und sagen, daß dies der schönste Nachmittag war, den ich hier verbracht habe, weil jemand mir vorbehaltlos zugehört hat? Oder wieder die Rüstung der Frau mit der Willenskraft und dem ›besonderen Licht‹ anlegen und einfach weggehen?‹
Vorhin auf dem Jakobsweg, als sie sich aus ihrem Leben erzählen hörte, war sie eine glückliche Frau gewesen. Sie konnte zufrieden sein – das allein war schon ein großes Geschenk.
»Ich werde dich besuchen«, sagte Ralf Hart.
»Tu das nicht. Ich reise bald wieder nach Brasilien zurück. Es ist doch schon alles gesagt.«
»Ich werde dich als Freier aufsuchen.«
»Das wird demütigend für mich sein.«
»Ich werde kommen, damit du mich rettest.«
Er hatte ihr gesagt, daß er sich für Sex nicht mehr interessiere. Sie wollte ihm sagen, daß es ihr genauso ging, hielt sich aber zurück – sie war in ihren negativen Äußerungen schon zu weit gegangen und zog es vor zu schweigen.
Wie rührend! Da stand sie wieder vor einem Jungen, nur daß er diesmal keinen Bleistift wollte, sondern etwas Gesellschaft. Sie sah auf ihr Leben zurück und konnte sich zum ersten Mal verzeihen. Es war nicht ihre Schuld gewesen, sondern die des unsicheren Jungen, der nach dem ersten Versuch aufgegeben hatte. Sie waren Kinder gewesen, und Kinder verhalten sich eben so. Weder sie noch der Junge hatte etwas falsch gemacht, und darüber war sie sehr erleichtert, sie fühlte sich besser, sie hatte die erste große Chance ihres Lebens nicht mutwillig vertan. Solche Dinge passierten eben, gehörten mit zur Initiation des Menschen auf der Suche nach seinem anderen Teil.
Allerdings war die Situation jetzt anders. So gut ihre Gründe auch sein mochten – ich gehe nach Brasilien, ich arbeite in einem Nachtclub, wir hatten keine Zeit, uns besser kennenzulernen, ich bin nicht an Sex interessiert, will von Liebe nichts wissen, muß eine Farm führen lernen, ich verstehe nichts von Malerei, wir leben in zu verschiedenen Welten –, das Leben stellte sie vor eine Herausforderung. Sie war kein Kind mehr, sie mußte eine Wahl treffen.
Sie zog es vor, ihm die Antwort schuldig zu bleiben. Sie verabschiedete sich mit einem Händedruck, wie es in diesem Land üblich war, und ging in die Richtung ihrer Wohnung. Wenn er wirklich der Mann war, wie sie ihn sich wü nschte, würde er sich von ihrem Schweigen nicht einschüchtern lassen.
Auszug aus Marias Tagebuch, am selben Tag geschrieben.
Als wir heute auf diesem seltsamen Jakobsweg am See entlanggegangen sind, hat der Mann – ein Maler, der ein so anderes Leben führt als ich – ein Steinchen ins Wasser geworfen. An der Stelle, an welcher der Stein hineinfiel, bildeten sich kleine Kreise, die sich immer mehr ausweiteten, bis sie eine Ente erreichten, die zufällig vorbeischwamm. Sie erschrak aber nicht, sondern spielte einfach mit den Wellen.
Wenige Stunden zuvor war ich in ein Cafe gegangen, hatte eine Stimme gehört, und es war so, als habe Gott einen Stein ins Wasser geworfen. Die Wellen der Energie berührten mich und einen Mann, der in einer Ecke ein Bild malte. Er hat die Energie des Steins gespürt und ich auch. Und nun?
Ein Maler weiß, wann er sein Modell gefunden hat. Ein Musiker weiß, wann sein Instrument gestimmt ist. Wenn ich mein Tagebuch lese, kommt es mir so vor, als ob bestimmte Sätze nicht von mir stammten, sondern von einer Frau voller ›Licht‹, die ich bin und die zu sein ich mich weigere.
Ich kann so weitermachen wie bisher. Aber ich kann mich auch wie die Ente im See vergnügen und mich über den Wellengang freuen, der plötzlich aufgekommen ist und das Wasser aufgewühlt hat.
Dieser Stein hat einen Namen: Leidenschaft – wenn zwei Menschen einander begegnen, kann er wie ein Blitz einschlagen. Die Leidenschaft liegt in der Erregung, die das Unerwartete hervorruft, in dem Wunsch, etwas mit Hingabe zu tun, in der Gewißheit, daß es einem gelingen wird, einen Traum zu verwirklichen. Die Leidenschaft gibt uns Zeichen, die uns im Leben leiten – und es bleibt mir überlassen, diese Zeichen zu deuten.
Ich würde gern glauben, daß ich verliebt bin. In jemanden, den ich nicht kenne und der in meinen Plänen nicht vorgesehen war. All diese Monate der Selbstkontrolle, diese Weigerung, mich zu verlieben, haben genau das Gegenteil bewirkt: Ich bin auf den ersten Menschen geflogen, der mir eine andere Art von Aufmerksamkeit geschenkt hat.
Wie gut, daß ich mir seine Telefonnummer nicht geben ließ, daß ich nicht weiß, wo er wohnt, daß ich nicht versucht habe, ihn zu halten!
Aber selbst wenn ich ihn bereits verloren hätte, so habe ich wenigstens einen glücklichen Tag in meinem Leben dazugewonnen. Und so, wie es um die Welt bestellt ist, grenzt ein glücklicher Tag schon an ein Wunder.