Wie konnte er da die Liebe nicht kennen? Die Geschichte war voll von tragischen Beispielen, auch unter seinen Freunden – und den Freunden seiner Freunde –, die nächtelang gewartet und gelitten hatten. Hätte er in Israel eine Frau, so hätte er seine Stadt kaum verlassen, als es ihm der Herr befahl, und er wäre jetzt tot.
>Ich kämpfe eine nutzlose Schlacht<, dachte er. >Die Liebe wird diesen Kampf gewinnen, und ich werde sie bis ans Ende meiner Tage lieben. Herr, schick mich wieder zurück nach Israel, damit ich dieser Frau niemals sagen muß, was ich für sie empfinde. Denn sie liebt mich nicht und wird mir sagen, daß ihr Herz mit dem ihres heldenhaften Mannes begraben wurde.< Am folgenden Tag traf sich Elia wieder mit dem Kommandanten. Er erfuhr, daß noch einige Zelte mehr aufgebaut worden waren.
»Wie groß ist jetzt die Anzahl der Krieger?« fragte er. »Einem Feind von Isebel gebe ich keine Auskunft.« »Ich bin Berater des Stadthauptmanns«, entgegnete Elia. »Er hat mich gestern nachmittag zu seinem Gehilfen ernannt, und Ihr wißt es, und daher schuldet Ihr mir eine Antwort.« Der Kommandant hatte nicht übel Lust, dem Leben des Fremden ein Ende zu bereiten.
»Auf zwei Soldaten der Assyrer kommt einer von uns«, antwortete er schließlich.
Elia wußte, daß der Feind eine viel größere Übermacht brauchte.
»Wir nähern uns dem idealen Augenblick, um die Friedensverhandlungen zu beginnen«, sagte er. »Sie werden uns für großmütig halten, und wir werden bessere Bedingungen aushandeln können. Jeder General weiß, daß zur Eroberung einer Stadt fünf Angreifer auf einen Verteidiger nötig sind.« »Sie werden diese Zahl noch erreichen, wenn wir nicht sofort angreifen.« »Selbst ihrer Versorgungseinheit gelingt es nicht, ausreichend Wasser für so viele Männer zu beschaffen. Und da kommt der Moment, in dem wir unsere Unterhändler losschicken können.« »Und wann genau ist das?« »Wir werden die Anzahl der assyrischen Krieger noch etwas anwachsen lassen. Wenn die Lage unerträglich wird, sind sie gezwungen anzugreifen, doch dann wird auf drei oder vier von ihnen ein Soldat von uns kommen. Und sie wissen, daß sie geschlagen werden. Dann werden unsere Emissäre den Frieden, den freien Durchzug und den Verkauf von Wasser anbieten. So stellt es sich der Stadthauptmann vor.« Der Kommandant sagte nichts und ließ den Fremden gehen.
Selbst wenn Elia tot war, konnte der Stadthauptmann auf dieser Idee beharren, und der Kommandant schwor sich, den Stadthauptmann dann zu töten. Danach würde er Selbstmord begehen, um dem Zorn der Götter zu entgehen.
Einstweilen würde er es auf gar keinen Fall zulassen, daß sein Volk vom Geld verraten würde.
»Schick mich nach Israel zurück, Herr«, flehte Elia immer und immer wieder, wenn er nachmittags durch das Tal wanderte.
»Laß nicht zu, daß mein Herz hier in Akbar gefangengehalten wird.« Einem Brauch der Propheten folgend, den er aus seiner Kindheit kannte, geißelte er sich jedesmal, wenn er an die Witwe dachte. Von der Peitsche waren seine Schultern bald nur noch rohes Fleisch, und er fiel zwei Tage lang in ein fiebriges Delirium. Als er wieder erwachte, war das erste, was er sah, das Gesicht der Frau. Sie behandelte seine Wunden, rieb sie mit Olivenöl ein. Da er zu schwach war, um in den Wohnraum hinunterzusteigen, brachte sie ihm sein Essen hinauf.
Sobald er wieder gesund war, nahm er seine Wanderungen im Tal wieder auf.
»Schick mich nach Israel zurück, Herr«, flehte er erneut. »Mein Herz ist schon in Akbar gefangen, doch mein Körper kann die Reise noch antreten.« Der Engel erschien. Es war nicht der Engel des Herrn, den er oben auf dem Berg gesehen hatte, sondern sein Schutzengel, an dessen Stimme er schon gewohnt war.
»Der Herr erhört die Gebete derer, die den Haß vergessen wollen. Doch sein Ohr ist taub für die, die der Liebe entrinnen wollen.« Sie nahmen das Abendessen immer zu dritt ein. Wie der Herr versprochen hatte, mangelte es nie an Mehl im Topf und an Öl im Krug.
Während der Mahlzeiten wurde nur selten gesprochen. An einem Abend jedoch fragte der Junge: »Was ist ein Prophet?« »Jemand, der immer dieselben Stimmen hört, die er schon als Kind gehört hat. Und der noch an sie glaubt. So kann er erfahren, was die Engel denken.« »Ja, ich weiß, wovon Ihr redet«, sagte der Junge. »Ich habe Freunde, die niemand sonst sieht.« »Vergiß sie nie, auch wenn die Erwachsenen sagen, daß dies Unsinn sei. So wirst du immer wissen, was Gott will.« »Ich werde die Zukunft kennen wie die Weissager von Babylon«, sagte der Junge.
»Die Propheten kennen die Zukunft nicht. Sie geben nur die Worte wieder, die ihnen der Herr im Augenblick eingibt.
Deshalb bin ich hier, ohne zu wissen, wann ich in mein Land zurückkehre. Er wird es mir nicht sagen, bevor es notwendig ist.« Die Augen der Frau trübten sich. Ja, eines Tages würde er gehen.
Elia rief den Herrn nicht mehr an. Er hatte beschlossen, daß er die Witwe und ihren Sohn mit sich nehmen würde, wenn der Augenblick kam, Akbar zu verlassen. Er würde nichts darüber sagen, bis die Stunde gekommen war.
Vielleicht wollte sie ja gar nicht weggehen. Vielleicht hatte sie gar nicht gespürt, was er für sie empfand – schließlich hatte er selbst lange gebraucht, es zu begreifen. In dem Fall könnte er sich ganz der Vertreibung Isebels und dem Aufbau Israels widmen. Seine Gedanken wären viel zu sehr in Anspruch genommen, als daß er an Liebe denken könnte.
»Der Herr ist mein Hirte«, sagte er, indem er sich an das alte Gebet König Davids erinnerte. »Er führet mich zum frischen Wasser. Er erquicket meine Seele. Und er wird mich den Sinn meines Lebens nicht verlieren lassen«, schloß er mit eigenen Worten.
Eines Nachmittags, als er früher als gewohnt nach Hause kam, traf er die Witwe auf der Schwelle des Hauses sitzend an.
»Was tut Ihr?« »Ich habe nichts zu tun«, antwortete sie.
»Dann lernt etwas. Zur Zeit haben viele Menschen ihr Leben aufgegeben. Sie langweilen sich nicht, sie weinen nicht, sie lassen nur die Zeit verstreichen. Sie nehmen die Herausforderungen des Lebens nicht an, und das Leben fordert sie nicht mehr heraus. Ihr lauft diese Gefahr. Tut etwas, stellt Euch dem Leben, gebt Euch nicht auf.« »Mein Leben hat wieder einen Sinn erhalten«, sagte sie, und blickte zu Boden. »Seit Ihr gekommen seid.« Für den Bruchteil einer Sekunde spürte er, daß er ihr sein Herz öffnen konnte. Doch er beschloß, es nicht zu riskieren – sie meinte sicher etwas ganz anderes.
»Tut etwas, unternehmt etwas«, sagte er, indem er das Thema wechselte. »So wird die Zeit zu Eurem Verbündeten und nicht zu Eurem Feind.« »Was könnte ich lernen?« Elia überlegte kurz.
»Die Schrift von Byblos. Sie wird nützlich sein, wenn Ihr eines Tages reisen müßt.« Die Frau beschloß, sich mit Herz und Seele diesem Studium zu verschreiben. Sie hatte nie daran gedacht, Akbar zu verlassen, doch so wie er redete, könnte es bedeuten, daß er sie mit sich nehmen wollte.
Sie fühlte sich abermals frei. Wieder erwachte sie im Morgengrauen und ging lächelnd durch die Straßen der Stadt.
»Elia lebt immer noch«, sagte zwei Monate später der Kommandant zum Priester. »Du hast es nicht geschafft, ihn umzubringen.« »Es gibt in ganz Akbar keinen Mann, der sich dafür hergibt. Der Israeli! hat die Kranken getröstet, die Gefangenen besucht, die Hungernden gespeist. Wenn jemand einen Streit mit dem Nachbarn hat, kommt er zu ihm, und alle nehmen seinen Richtspruch an, weil er gerecht ist. Der Stadthauptmann benutzt ihn im stillen, um seine eigene Beliebtheit zu vergrößern.« »Die Kaufleute wollen keinen Krieg. Wenn der Stadthauptmann weiterhin so beliebt ist und es ihm sogar gelingt, die Bevölkerung davon zu überzeugen, daß ein Frieden vorzuziehen ist, gelingt es uns niemals, die Assyrer von hier zu vertreiben. Daher muß Elia sterben.« Der Priester wies auf den Fünften Berg, dessen Gipfel wie immer in Wolken gehüllt war.
»Die Götter werden nicht zulassen, daß ihr Land von einer fremden Macht erniedrigt wird. Sie werden schon etwas tun: Es wird irgend etwas geschehen, und das werden wir uns zunutze machen.« »Was denn?« »Ich weiß es nicht. Aber ich werde die Zeichen aufmerksam beobachten. Gebt keine genauen Informationen über die Zahl der fremden Soldaten heraus. Wenn Euch jemand fragt, sagt einfach, das Verhältnis sei immer noch vier zu eins. Und laßt Eure Truppen weiter üben.« »Warum soll ich das tun? Wenn das Verhältnis fünf zu eins steht, sind wir verloren.« »Nein: Wir wären gleich stark. Wenn die Schlacht stattfinden sollte, werdet Ihr nicht gegen einen unterlegenen Feind kämpfen, und man wird Euch nicht für einen Feigling halten, der die Schwächeren mißbraucht. Das Heer von Akbar wird sich einem Gegner stellen, der genauso mächtig ist wie es selbst.