Einer der Männer am Pult stieß einen Laut des Widerwillens aus. Menschen sind so konditioniert, dachte Johanson. Wir gruseln uns vor allem, was kriecht, krabbelt und wimmelt, dabei ist es normal. Wir würden uns am meisten vor uns selber gruseln, wenn wir sehen könnten, wie sich Horden von Milben in unseren Poren bewegen und vom Talg ernähren, wie sich Millionen winziger Spinnentiere in unseren Matratzen breit machen und Milliarden Bakterien in unseren Gedärmen.
Trotzdem gefiel ihm nicht, was er sah. Die Bilder aus dem Mexikanischen Golf hatten ähnlich große Populationen gezeigt, aber die Tiere waren kleiner gewesen und hatten untätig in ihren Kuhlen gelebt. Diese hier wanden und schlängelten sich über das Eis, eine gewaltige zuckende Masse, die den Boden vollständig bedeckte.
»Zickzackkurs«, sagte Lund. Das ROV begann, in einer Art ausladendem Slalom zu schwimmen. Das Bild veränderte sich nicht. Würmer, wohin man sah. Plötzlich senkte sich der Boden ab. Der Pilot steuerte den Roboter weiter auf die Plateaukante zu. Selbst die acht starken Flutlichtspots erlaubten hier nur eine Sicht von wenigen Metern. Dennoch hatte es den Anschein, als bedeckten die Kreaturen den ganzen Hang. Johanson kam es vor, als seien sie noch größer als die Exemplare, die Lund ihm zur Untersuchung überlassen hatte. Im nächsten Moment wurde alles schwarz. Victor war über die Kante gestoßen. Hier ging es rund einhundert Meter senkrecht in die Tiefe. Der Roboter fuhr mit voller Geschwindigkeit weiter. »Drehen«, sagte Lund. »Wir schauen uns die Hangwand an.« Der Pilot manövrierte den Victor in eine Kurve. Im Scheinwerferlicht wirbelten Partikel. Etwas Großes, Helles wölbte sich vor die Kameraobjektive, füllte sie eine Sekunde lang aus und zog sich blitzschnell zurück.
»Was war das?«, rief Lund.
»Position zurück.«
Das ROV flog eine Gegenkurve.
»Es ist weg.«
»Kreisbewegung!«
Victor stoppte und begann, sich um seine eigene Achse zu drehen. Nichts war zu sehen außer undurchdringlicher Finsternis und dem beleuchteten Plankton im Lichtkegel. »Da war irgendwas«, bestätigte der Koordinator. »Vielleicht ein Fisch.« »Muss ein verdammt großer Fisch gewesen sein«, knurrte der Pilot. »Er hat das Bild komplett ausgefüllt.« Lund wandte den Kopf und sah Johanson an. Er schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung, was es war.« »Okay. Schauen wir uns weiter unten um.«
Das ROV hielt auf den Abhang zu. Nach wenigen Sekunden kam abschüssiges Gelände in Sicht. Einige Sedimentbrocken ragten daraus hervor, der Rest war bedeckt von rosa Leibern.
»Sie sind überall«, sagte Lund.
Johanson trat neben sie.
»Habt ihr eine Übersicht über die hiesigen Hydratvorkommen?« »Hier ist alles voller Methan. Hydrate, Gasblasen im Erdinnern, Gas, das austritt …« »Ich meine speziell das Eis an der Oberfläche.« Lund tippte etwas in die Tastatur ihres Terminals. Eine Karte des Meeresbodens erschien auf einem der Monitore. »Da, die hellen Flecken. Diese Vorkommen haben wir kartiert.«
»Kannst du mir Victors augenblickliche Position zeigen?«
»Etwa hier.« Sie zeigte auf einen Bereich, der großflächige Verfärbungen aufwies.
»Gut. Steuert mal dorthin, schräg rüber.«
Lund gab dem Piloten Anweisungen. Die Scheinwerfer erfassten wieder Meeresboden, der frei von Würmern war. Nach einer Weile stieg das Gelände an, dann tauchte unmittelbar die Steilwand aus dem Dunkel auf.
»Höher«, sagte Lund. »Hübsch langsam.«
Schon nach wenigen Metern bot sich ihnen das gleiche Bild wie zuvor. Schlauchförmige rosa Körper mit weißen Borsten.
»Klassisch«, sagte Johanson.
»Was meinst du?«
»Wenn eure Karte stimmt, sind genau hier große Hydratausdehnungen. Sprich, Bakterien lagern auf dem Eis und setzen das Methan um, und die Würmer fressen die Bakterien.«
»Ist es auch klassisch, dass sie gleich zu Millionen anrücken?«
Er schüttelte den Kopf. Lund lehnte sich zurück.
»Na schön«, sagte sie zu dem Mann, der den Greifarm unter Kontrolle hatte. »Setzen wir Victor ab. Er soll einen Schwung von den Viechern einsacken und sich weiter die Gegend angucken — falls bei dem Gedränge von Gegend noch die Rede sein kann.«
Es war zehn Uhr durch, als es an Johansons Kammer klopfte. Er öffnete. Lund kam herein und ließ sich in den kleinen Sessel fallen, der zusammen mit einem winzigen Tisch den besonderen Kabinenluxus darstellte.
»Meine Augen brennen«, sagte sie. »Alban hat für eine Weile übernommen.«
Ihr Blick fiel auf die Käseplatte und die geöffnete Flasche Bordeaux.
»Das hätte ich mir ja denken können.« Sie lachte. »Darum bist du eben abgehauen.«
Johanson hatte den Monitorraum vor einer halben Stunde verlassen, um alles vorzubereiten.
»Brie des Meaux, Taleggio, Munster, ein alter Ziegenkäse und etwas Fontina aus den piemontesischen Bergen«, stellte er die Käse der Reihe nach vor. »Baguette und Butter.«
»Du Wahnsinniger.«
»Willst du ein Glas?«
»Natürlich will ich ein Glas. Was ist es denn?«
»Ein Pauillac. Du musst mir nachsehen, dass ich ihn nicht dekantieren konnte, die Thorvaldson weist Mängel an gesellschaftsfähigem Kristall auf. Habt ihr noch was Interessantes gesehen?«
Lund nahm das Glas entgegen und trank es zur Hälfte leer. »Die Scheißviecher lagern auf den Hydraten. Überall.«
Johanson ließ sich ihr gegenüber auf der Bettkante nieder und strich nachdenklich Butter auf ein Stück Baguette. »Wirklich bemerkenswert.«
Lund bediente sich am Käse. »Die anderen sind jetzt auch der Meinung, dass wir uns Gedanken machen sollten. Allen voran Alban.«
»Bei eurem ersten Besuch habt ihr nicht so viele gesehen?«
»Nein. Ich meine, mehr als genug für meinen Geschmack, nur stand ich mit meinem Geschmack bis eben noch alleine.«
Johanson lächelte sie an.
»Du weißt doch. Wer Geschmack hat, befindet sich immer in der Minderheit.«
»Na, jedenfalls, morgen früh kommt Victor hoch und bringt weitere Würmer mit. Dann kannst du mit ihnen spielen, falls du Lust hast.« Kauend stand sie auf und schaute aus dem Kabinenfenster. Inzwischen hatte es aufgeklart. Ein Streifen Mondlicht ergoss sich über die Wellen, die ihn funkelnd verteilten. »Wohl hundertmal habe ich mir die verdammte Videosequenz angesehen. Dieses helle Ding. Alban meint auch, es sei ein Fisch gewesen, aber wenn das stimmt, dann hatte er die Ausmaße eines Mantas oder von noch was Größerem.
Außerdem war keinerlei Körperform erkennbar.« »Vielleicht ein Lichtreflex«, schlug Johanson vor. Sie drehte sich zu ihm um. »Nein. Es war einige Meter entfernt, genau an der Lichtgrenze. Es war riesig und flächig, und es hat sich blitzschnell zurückgezogen, als könne es das Licht nicht vertragen oder habe Angst, entdeckt zu werden.«
»Das kann alles Mögliche gewesen sein.«
»Nein, nicht alles Mögliche.«
»Ein Fischschwarm kann auch zurückzucken. Wenn sie dicht genug schwimmen, entsteht der Eindruck eines …« »Das war kein Fischschwarm, Sigur! Es war flächig. Eine durchgehende Fläche, irgendwie … glasig. Wie eine große Qualle.« »Eine große Qualle. Da hast du’s.« »Nein. Nein!« Sie machte eine Pause und setzte sich wieder. »Schau es dir selber an. Es war keine Qualle.« Sie aßen eine Weile schweigend weiter.
»Du hast Jörensen belogen«, sagte Johanson unvermittelt. »Es wird kein SWOP geben. Jedenfalls nichts, worauf man Ölarbeiter beschäftigen könnte.«
Lund schaute auf. Sie führte ihr Glas zu den Lippen, trank und stellte es bedächtig zurück. »Stimmt.«
»Warum? Hast du befürchtet, es könnte ihm das Herz brechen?«
»Vielleicht.«
Johanson schüttelte den Kopf.
»Ihr werdet ihm ohnehin das Herz brechen. Es gibt keine Jobs mehr für die Ölarbeiter, richtig?«
»Hör zu, Sigur, ich wollte ihn nicht belügen, aber … ach verdammt, diese ganze Industrie macht gerade eine Veränderung durch, und menschliche Arbeitskräfte werden dabei auf der Strecke bleiben. Was soll ich denn machen? Jörensen weiß, dass es so ist. Er weiß auch, dass die Mannschaft der Gullfaks C auf ein Zehntel reduziert wird. Es kostet weniger, die ganze Plattform umzurüsten, als weiterhin zweihundertsiebzig Leute zu beschäftigen. Statoil trägt sich mit dem Gedanken, die Mannschaft auf Gullfaks B ganz aufzulösen. Wir können sie von einer anderen Plattform aus steuern, und selbst das rechnet sich nur mit gutem Willen.«