»Du willst mir weismachen, dass sich euer Business nicht mehr lohnt?«
»Das Offshore-Geschäft hat sich erst gelohnt, als die OPEC den Preis in die Höhe trieb, Anfang der Siebziger. Aber seit Mitte der Achtziger fällt er wieder. Und entsprechend tief wird Nordeuropa fallen, wenn die Quellen versiegen, also müssen wir weiter draußen bohren, wo es tief ist, unter Zuhilfenahme von ROVs und AUVs.«
AUV war eine weitere Abkürzung aus dem Vokabular der Tiefseeexploration und derzeit in aller Munde. Die Autonomous Underwater Vehicles funktionierten im Wesentlichen wie der Victor, waren jedoch nicht mehr auf die künstliche Nabelschnur zum Mutterschiff angewiesen. Die Offshore-Industrie sah mit großem Interesse auf die Entwicklung dieser neuartigen Tauchroboter, die wie planetare Späher in die unwirtlichsten Regionen vorstießen, äußerst flexibel und beweglich waren und innerhalb eines gewissen Rahmens sogar eigene Entscheidungen treffen konnten. Mit Hilfe von AUVs rückte die Möglichkeit in greifbare Nähe, Ölförderungsstationen selbst in fünf— oder sechstausend Metern Tiefe zu installieren und zu überwachen.
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen«, sagte Johanson, während er Wein nachgoss. »Du kannst nicht wirklich was dafür.«
»Ich entschuldige mich nicht«, entgegnete Lund mürrisch. »Außerdem können wir alle was dafür. Würde die Menschheit nicht so rumaasen mit dem Brennstoff, hätten wir die Probleme nicht.«
»Doch. Wir hätten sie nur später. Aber dein Umweltbewusstsein ehrt dich.«
»Na und?«, versetzte sie giftig. Der spöttische Unterton in seiner Stimme war ihr nicht entgangen. »Ölfirmen lernen auch dazu, du wirst es kaum für möglich halten.«
»Ja, aber was?«
»Wir dürfen uns in den nächsten Jahrzehnten mit der Entsorgung von über sechshundert Plattformen rumschlagen, weil sie unwirtschaftlich sind und die Technik nichts mehr taugt! Weißt du, was das kostet? Milliarden! Bis dahin ist der Schelf leer gepumpt! Also tu nicht so als wären wir irgendwelches Lumpenpack.«
»Schon gut.«
»Natürlich stürzt sich jetzt alles auf unbemannte Unterwasserfabriken. Wenn wir es nicht tun, hängt Europa morgen komplett an den Pipelines des Nahen Ostens und Südamerikas, und uns bleibt ein Friedhof im Meer.«
»Dagegen sage ich ja gar nichts. Ich frage mich nur, ob ihr immer so genau wisst, was ihr da tut.«
»Was meinst du damit?«
»Ihr müsst massive technische Probleme lösen, um autonome Fabriken zu betreiben.«
»Ja. Sicher.«
»Ihr plant den Durchsatz gewaltiger Mengen unter extremen Druckverhältnissen und mit hochkorrosiven Beimischungen, und dann noch möglichst wartungsfrei.« Johanson zögerte. »Aber ihr wisst nicht wirklich, wie es da unten aussieht.«
»Wir finden es eben heraus.«
»So wie heute? Das bezweifle ich. Mir kommt es vor, als ob Oma im Urlaub Schnappschüsse macht und hinterher denkt, sie wüsste etwas über das Land, in dem sie war. Ihr neigt dazu, euch eine Stelle zu suchen, euch einen Claim abzustecken und ihn so weit in Augenschein zu nehmen, dass er euch Erfolg versprechend erscheint. Deswegen werdet ihr noch lange nicht verstehen, in welches System ihr eingreift.«
»Jetzt kommt das schon wieder«, stöhnte Lund.
»Habe ich etwa Unrecht?«
»Ich kann das Wort Ökosystem singen und rückwärts herbeten. Ich kann’s im Schlaf. Bist du jetzt neuerdings gegen die Ölförderung?«
»Nein. Ich bin nur dafür, sich mit der Welt vertraut zu machen, die man betritt.«
»Was denkst du, was wir hier tun?«
»Ich bin sicher, ihr wiederholt eure Fehler. Ende der Sechziger hattet ihr euren Goldrausch, und ihr habt die Nordsee zugebaut. Jetzt steht euch das Zeug im Weg herum. Ihr solltet ähnliche Hastigkeiten in der Tiefsee vermeiden.«
»Wenn wir so hastig sind, warum habe ich dir dann die verdammten Würmer geschickt?«
»Du hast ja Recht. Ego te absolvo.«
Sie kaute auf ihrer Unterlippe. Johanson beschloss, das Thema zu wechseln: »Kare Sverdrup ist übrigens ein netter Kerl. — Um auch mal was Positives zu sagen an diesem Abend.«
Lund warf die Stirn in Falten. Dann entspannte sie sich und lachte. »Findest du?«
»Absolut.« Er breitete die Hände aus. »Ich meine, es ist alles andere als nett, dass er mich vorher nicht gefragt hat, aber ich kann ihn gut verstehen.«
Lund ließ den Wein in ihrem Glas kreisen.
»Das ist alles noch so frisch«, sagte sie leise.
Sie schwiegen eine Weile.
»Sehr verliebt?«, fragte Johanson in die Stille hinein.
»Wer? Er oder ich?«
»Du.«
»Hm.« Sie lächelte. »Ich glaube schon.«
»Du glaubst?«
»Ich bin Forscherin. Ich muss es eben erst erforschen.«
Es war Mitternacht, als sie schließlich ging. An der Tür warf sie einen Blick zurück auf die leeren Gläser und die Käserinden.
»Vor wenigen Wochen hättest du mich damit gekriegt«, sagte sie. Es klang beinahe bedauernd.
Johanson schob sie sanft hinaus auf den Flur.
»In meinem Alter kommt man auch darüber weg«, sagte er. »Los jetzt! Geh forschen.«
Sie trat nach draußen. Dann beugte sie sich vor und gab ihm einen Kuss auf die Wange.
»Danke für den Wein.«
Das Leben besteht aus Kompromissen zwischen verpassten Gelegenheiten, dachte Johanson, als er die Türe schloss. Dann grinste er und schickte den Gedanken in die Verbannung. Er hatte schon zu viele Gelegenheiten genutzt, um sich beklagen zu können.
18. März
Leon Anawak hielt den Atem an.
Komm schon, dachte er. Mach uns die Freude.
Es war das sechste Mal, dass der Beluga auf den Spiegel zuschwamm. Die kleine Gruppe Journalisten und Studenten, die sich im unterirdischen Beobachtungsraum des Vancouver Aquariums zusammengefunden hatte, verharrte in andächtiger Stille. Durch die riesige Scheibe konnten sie das Innere des Pools in seiner Gesamtheit überblicken. Schräg einfallende Sonnenstrahlen tanzten über Wände und Boden. Der Beobachtungsraum selber lag im Dunkeln, sodass die Wasseroberfläche Licht und Schatten in unstetem Spiel auf die Gesichter der Umstehenden zauberte.
Anawak hatte den Beluga mit ungiftiger Tinte markiert. Ein farbiger Kreis zierte jetzt seinen Unterkiefer. Die Stelle war so gewählt, dass der Wal sie nur sehen konnte, wenn er sein Spiegelbild betrachtete. Zwei Spiegel waren in die reflektierenden Glaswände des Pools eingelassen, und zu einem davon schwamm der Beluga jetzt in mäßigem Tempo. Er tat es mit einer Zielstrebigkeit, dass Anawak keinen Zweifel am Ausgang des Experiments hegte. Der weiße Körper drehte sich im Vorüberschwimmen leicht, als wolle der Wal den Betrachtern seine markierte Kinnlade präsentieren. Dann stoppte er vor der Glaswand und ließ sich ein Stück nach unten sinken, bis er auf gleicher Höhe mit dem Spiegel war. Er verharrte, stellte sich auf, bewegte den Kopf in die eine, dann in die andere Richtung. Offenbar versuchte er herauszufinden, aus welchem Blickwinkel er den Kreis am besten sehen konnte. Eine ganze Weile schwebte er auf diese Weise vor dem Spiegel, bewegte die Flossen und drehte den kleinen Kopf mit der charakteristischen Stirnwölbung hin und her.
So wenig menschenähnlich der Beluga war, erinnerte er in diesen Sekunden auf geradezu unheimliche Weise an einen Menschen. Im Gegensatz zu Delphinen waren Belugas verschiedener Gesichtsausdrücke fähig. Augenblicklich schien der Wal sich zuzulächeln. Vieles von dem, was Menschen gerne in Delphine und Belugas hineininterpretierten, resultierte aus diesem vermeintlichen Lächeln. Tatsächlich entsprangen die hoch gezogenen Mundwinkel einer Reihe physiognomischer Eigentümlichkeiten, die der Kommunikation dienten. Belugas konnten die Mundwinkel ebenso herabziehen, ohne Missmut auszudrücken. Sie konnten sogar die Lippen spitzen und aussehen, als ob sie gut gelaunt vor sich hinpfiffen.