Im nächsten Moment verlor der Beluga das Interesse. Vielleicht war er zu dem Schluss gelangt, sein Spiegelbild hinreichend erforscht zu haben, jedenfalls stieg er in einer eleganten Kurve auf und entfernte sich von der Glasscheibe.
»Das war’s«, sagte Anawak leise.
»Und was heißt das jetzt?«, fragte eine Journalistin enttäuscht, nachdem der Wal nicht wiederkam.
»Er weiß, wer er ist. Gehen wir nach oben.«
Sie stiegen aus dem Untergrund zurück ins Sonnenlicht. Zu ihrer Linken lag der Pool, auf dessen Oberfläche sie nun blickten. Dicht unter den kräuseligen Wellen sahen sie die Körper der beiden Belugas dahingleiten. Anawak hatte bewusst darauf verzichtet, die Beobachter im Vorhinein über den exakten Ablauf des Experiments aufzuklären. Er ließ sich die Eindrücke der Teilnehmer schildern, um sicherzugehen, dass er nichts in das Verhalten des Wals hineininterpretierte, was ihn sein Wunschdenken hatte sehen lassen.
Seine Beobachtungen wurden ausnahmslos bestätigt.
»Gratuliere«, sagte er schließlich. »Sie haben soeben einem Experiment beigewohnt, das als Spiegel-Selbsterkennung in die Geschichte der Verhaltensforschung eingegangen ist. Ist jeder von Ihnen hinreichend damit vertraut?«
Die Studenten waren es, die Journalisten weniger.
»Macht nichts«, sagte Anawak. »Ich gebe Ihnen einen kurzen Abriss. Die Spiegel-Selbsterkennung datiert aus den Siebzigern. Jahrzehntelang beschränkten sich die Tests vornehmlich auf Primaten. Ich weiß nicht, ob Ihnen der Name Gordon Gallup etwas sagt …« Etwa die Hälfte der Umstehenden nickte, die anderen schüttelten den Kopf. »Nun, Gallup ist Psychologe an der State University von New York. Eines Tages kam er auf eine ziemlich verrückte Idee: Er konfrontierte verschiedene Affenarten mit ihrem Spiegelbild. Die meisten ignorierten es, andere versuchten es anzugreifen, weil sie dachten, es handle sich um einen fremden Eindringling. Einige Schimpansen erkannten sich schließlich im Spiegel und benutzten ihn, um sich selber zu erforschen. Das war bemerkenswert, denn die überwiegende Mehrheit im Tierreich ist nicht in der Lage, sich selber im Spiegel zu erkennen. Tiere existieren. Sie fühlen, agieren und reagieren. Aber sie sind sich ihrer selbst nicht bewusst. Sie können sich nicht als eigenständige Individuen wahrnehmen, die sich von ihren Artgenossen unterscheiden.«
Anawak erklärte weiter, wie Gallup die Stirn der Affen mit Farbe markiert und die Tiere dann vor den Spiegel gesetzt hatte. Die Schimpansen begriffen schnell, wen sie da im Spiegel sahen. Sie inspizierten die Markierung, betasteten die Stelle mit den Fingern und rochen daran. Gallup führte die Tests mit anderen Affen, Papageien und Elefanten durch. Doch die einzigen Tiere, die den Spiegeltest durchweg bestanden, waren Schimpansen und Orang-Utans, was Gallup zu der Schlussfolgerung brachte, dass sie über Selbstwahrnehmung und damit über ein gewisses Selbstbewusstsein verfügten.
»Gallup ging aber noch weiter«, erklärte Anawak. »Er hatte lange Zeit die Auffassung vertreten, Tiere könnten die Psyche anderer Spezies nicht nachempfinden. Aber die Spiegeltests änderten seine Meinung. Er glaubt heute nicht nur, dass sich bestimmte Tiere ihrer selbst bewusst sind, sondern auch, dass sie dieser Umstand in die Lage versetzt, sich in andere hineinzudenken. Schimpansen und Orang-Utans messen anderen Individuen Absichten bei und entwickeln Mitgefühl. Sie können von ihrem eigenen psychischen Befinden auf das anderer schließen. Das ist Gallups These, die mittlerweile eine große Anhängerschaft gefunden hat.«
Er machte eine Pause. Ihm war klar, dass er die Journalisten später würde einbremsen müssen. Er wollte nicht in wenigen Tagen lesen, Belugas seien bessere Psychiater, Tümmler hätten einen Club zur Rettung Schiffbrüchiger und Schimpansen einen Schachverein gegründet.
»Jedenfalls«, fuhr er fort, »ist es bezeichnend, dass bis in die Neunziger fast ausschließlich Landtiere für Spiegeltests herangezogen wurden. Dabei war über die Intelligenz von Walen und Delphinen zwar schon spekuliert worden, aber der Nachweis fand nicht unbedingt das Interesse der Nahrungsmittelindustrie. Affenfleisch und Affenfell sind nur für einen sehr geringen Teil der Weltbevölkerung von Interesse. Die Jagd auf Wale und Delphine vereinbart sich hingegen schlecht mit Intelligenz und Selbstbewusstsein der Gejagten. Eine ganze Reihe von Leuten war nicht sonderlich begeistert, als wir vor wenigen Jahren begannen, Spiegeltests mit Tümmlern durchzuführen. Wir kleideten den Pool teils mit reflektierenden Glasscheiben aus, teils mit richtigen Spiegeln. Dann markierten wir die Tümmler mit einem schwarzen Stift. Es war erstaunlich genug, dass unsere Probanden so lange die Wände absuchten, bis sie die Spiegel gefunden hatten. Offenbar war ihnen klar, dass sie die Markierung umso deutlicher sehen konnten, je besser die Fläche ihr Spiegelbild reflektierte. Aber wir gingen noch weiter, indem wir die Tiere abwechselnd mit einem echten Farbstift kennzeichneten und mit einem, der nur Wasser enthielt. Es hätte ja sein können, dass die Tümmler einzig auf den taktilen Reiz des Stifts reagierten, aber tatsächlich verharrten sie länger und prüfender vor den Spiegeln, wenn die Markierung sichtbar war.«
»Erhielten die Tümmler Belohnungen?«, fragte einer der Studenten.
»Nein, und wir haben sie auch nicht für den Test trainiert. Wir haben während der Experimente sogar unterschiedliche Körperpartien markiert, um Lern— oder Gewöhnungseffekte auszuschließen. Seit wenigen Wochen führen wir nun den gleichen Testaufbau mit Belugas durch. Sechsmal haben wir den Wal markiert, zweimal mit dem Placebo-Stift. Sie haben gesehen, was geschah. Jedes Mal schwamm er zu dem Spiegel und suchte nach dem Symbol. Zweimal fand er keines vor und brach die Überprüfung vorzeitig ab. Meines Erachtens haben wir den Beweis erbracht, dass Belugas über den gleichen Grad der Selbsterkenntnis verfügen wie Schimpansen. Wale und Menschen könnten einander in einigen Punkten ähnlicher sein, als wir bisher dachten.«
Eine Studentin hob die Hand. »Sie wollen sagen …« Sie zögerte. »Die Ergebnisse wollen sagen, dass Delphine und Belugas über Geist und Bewusstsein verfügen, richtig?«
»So ist es.«
»Worin soll das begründet liegen?«
Anawak war verblüfft. »Haben Sie gerade nicht zugehört? Waren Sie vorhin nicht unten?«
»Doch, schon. Ich habe gesehen, dass ein Tier sein Spiegelbild registriert hat. Es weiß also, das bin ich. Schließen Sie daraus zwangsläufig auf Selbstbewusstsein?«
»Sie haben die Frage soeben selber beantwortet. Es weiß, das bin ich. Es hat ein Ich-Bewusstsein.«
»Das meine ich nicht.« Sie trat einen Schritt nach vorne. Anawak betrachtete sie unter gerunzelten Brauen. Sie hatte rotes Haar, eine kleine spitze Nase und leicht überdimensionierte Schneidezähne. »Ihr Versuch unterstellt Aufmerksamkeitsbewusstsein und Körperidentität. Wie es aussieht, mit Erfolg. Das muss noch lange nicht heißen, dass diese Tiere ein Bewusstsein permanenter Identität aufweisen und daraus irgendwelche Konsequenzen im Umgang mit anderen Lebewesen ableiten.«
»Das habe ich auch nicht gesagt.«
»Doch. Sie haben Gallups These vertreten, dass bestimmte Tiere von sich selbst auf andere schließen können.«
»Affen.«
»Was nebenbei gesagt umstritten ist. Jedenfalls haben Sie keinerlei Einschränkungen gemacht, als Sie später über Tümmler und Belugas sprachen. Oder habe ich irgendwas nicht mitbekommen?«
»Man muss in diesem Fall nichts einschränken«, erwiderte Anawak verdrossen. »Dass die Tiere sich erkennen, ist bewiesen.«
»Einige Versuche lassen das vermuten, ja.«
»Worauf wollen Sie hinaus?«
Sie hob die Schultern und sah ihn aus runden Augen an.
»Na, ist das nicht offensichtlich? Sie können sehen, wie sich ein Beluga benimmt. Aber woher wollen Sie wissen, was er denkt? Ich kenne die Arbeit von Gallup. Er meint, bewiesen zu haben, dass sich ein Tier in ein anderes hineinversetzen kann. Das setzt voraus, dass Tiere ähnlich denken und empfinden wie wir. Was Sie uns heute gezeigt haben, ist der Versuch einer Vermenschlichung.«