Inglewood hatte einen Helikopter geschickt. Keine zwei Stunden nach seinem Funkgespräch mit Shoemaker sah Anawak die spektakuläre Landschaft Vancouver Islands unter sich hinwegziehen. Tannenbestandene Hügel wechselten mit schroffen Gebirgskuppen, dazwischen glitzerten Flüsse und lockten blaugrüne Seen. Die Schönheit der Insel konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Holzwirtschaft den Wäldern arg zugesetzt hatte. Während der vergangenen hundert Jahre hatte sie sich zum bedeutendsten Industriezweig der Region entwickelt. Über weite Flächen war der Kahlschlag nicht zu übersehen.
Sie ließen Vancouver Island hinter sich und überflogen die viel befahrene Strait of Georgia, Luxusliner, Fähren, Frachter und Privatyachten. In weiter Ferne erstreckten sich die imposanten Gebirgsketten der Rocky Mountains mit ihren schneegefleckten Gipfeln. Türme aus blauem und rosafarbenem Glas säumten eine weitläufige Bucht, in der Wasserflugzeuge aufstiegen und landeten wie Vögel, ebenso bunt und zahlreich.
Der Pilot sprach mit der Bodenstation. Der Helikopter ging tiefer, drehte eine Kurve und hielt auf die Dockanlagen zu. Kurz darauf landeten sie auf einer freien Fläche von den Ausmaßen eines riesigen Parkplatzes. Zu beiden Seiten türmten sich Stapel geschichteten Zedernholzes, das auf seinen Abtransport wartete. Etwas weiter lagerten Schwefel und Kohle in kubistischen Haufen. Ein gewaltiger Cargoliner ankerte am Pier. Anawak sah eine Gruppe von Menschen, aus der sich ein Mann löste und zu ihnen herüberkam. Sein Haar flatterte im Wirbelwind der Motoren. Er trug einen Mantel und hatte die Schultern hochgezogen gegen die kühle Witterung. Anawak löste den Sicherheitsgurt und machte sich bereit zum Ausstieg.
Der Mann zog die Tür auf. Er war groß und stattlich, Anfang sechzig, mit einem runden, freundlichen Gesicht und wachen Augen. Er lächelte, als er Anawak die Hand reichte.
»Clive Roberts«, sagte er. »Managing Director.«
Sie schüttelten einander die Hände. Anawak folgte Roberts zu der. Gruppe, die augenscheinlich mit der Inspektion des Frachters befasst war. Er sah Seeleute und Personen in Zivilkleidung. Immer wieder schauten sie an der Steuerbordseite des Schiffs empor, schritten daran entlang, blieben stehen und gestikulierten.
»Sehr freundlich, dass Sie so schnell kommen konnten«, sagte Roberts. »Sie müssen entschuldigen. Normalerweise fallen wir nicht derart mit der Tür ins Haus, aber die Sache brennt uns unter den Nägeln.«
»Keine Ursache«, erwiderte Anawak. »Worum geht’s?«
»Um einen Unfall. Möglicherweise.«
»Das Schiff dort?«
»Ja, die Barrier Queen. Genauer gesagt hatten wir ein Problem mit den Schleppern, die sie nach Hause bringen sollten.«
»Sie wissen, dass ich Experte für Cetacaen bin? Verhaltensforscher. Wale und Delphine.«
»Genau darum geht es. Um Verhaltensforschung.«
Roberts stellte ihm die Personen vor. Drei gehörten zum Management der Reederei, die anderen vertraten den Technischen Vertragspartner. Ein Stück weiter luden zwei Männer Tauchequipment aus einem Transporter. Anawak sah in besorgte Gesichter, dann nahm ihn Roberts beiseite.
»Augenblicklich können wir leider nicht mit der Besatzung sprechen«, sagte er. »Aber ich lasse Ihnen eine vertrauliche Kopie des Berichts zukommen, sobald er vorliegt. Wir möchten die Sache nicht unnötig breittreten. Kann ich mich auf Sie verlassen?«
»Natürlich.«
»Gut. Ich gebe Ihnen eine Zusammenfassung der Ereignisse. Danach entscheiden Sie, ob Sie bleiben oder wieder abfliegen wollen. So oder so kommen wir für sämtliche Ausfälle und Unannehmlichkeiten auf, die wir Ihnen verursacht haben.«
»Sie verursachen keine Umstände.«
Roberts sah ihn dankbar an. »Sie müssen wissen, die Barrier Queen ist ein ziemlich neues Schiff. Erst kürzlich auf Herz und Nieren geprüft, vorbildlich in allen Disziplinen, ordnungsgemäß zertifiziert. Ein 60000Tonnen-Frachter, mit dem wir bislang ohne Probleme Schwerlaster verschifft haben, vorwiegend nach Japan und zurück. Wir stecken eine Menge Geld in die Sicherheit, mehr, als wir müssten. Jedenfalls die Barrier Queen war auf dem Rückweg, voll beladen.«
Anawak nickte wortlos.
»Vor sechs Tagen erreichte sie die 200-Seemeilen-Zone vor Vancouver Gegen drei Uhr morgens. Der Steuermann legte 5° Ruder, eine Routinekorrektur. Er hielt es nicht für nötig, einen Blick auf die Anzeige zu werfen. Weit vorne waren die Lichter eines anderen Schiffs zu sehen, an denen man sich mit bloßem Auge orientieren konnte, und eigentlich hätten sich diese Lichter nun nach rechts verschieben müssen. Aber sie blieben, wo sie waren. Die Barrier Queen fuhr immer noch geradeaus. Der Steuermann gab Ruder zu, ohne dass eine sichtbare Kursänderung erfolgte, also ging er bis zum Anschlag, und plötzlich klappte es. — Leider klappte es etwas zu gut.«
»Er fuhr jemandem rein?«
»Nein. Das andere Schiff war zu weit weg. Aber anscheinend hatte das Ruder geklemmt. Jetzt lag es am Anschlag und klemmte wieder. Es ließ sich nicht mehr zurückbewegen. Ein Ruder am Anschlag bei 20 Knoten Fahrt … ich meine, ein Schiff dieser Größe stoppen Sie nicht eben mal so ab! Die Barrier Queen geriet bei hoher Geschwindigkeit in einen extrem engen Drehkreis. Sie legte sich auf die Seite, samt Ladung. 10° Krängung, haben Sie eine Vorstellung, was das heißt?«
»Ich kann’s mir denken.«
»Knapp über dem Wasserspiegel befinden sich die Öffnungen für die Fahrzeugdeckentwässerung. Bei hoher See werden sie unablässig geflutet, und ebenso schnell läuft das Wasser jedes Mal wieder ab. Bei einer derartigen Schieflage kann es aber passieren, dass sie permanent unter Wasser geraten. Dann läuft Ihnen das Schiff im Handumdrehen voll. Gott sei Dank hatten wir ruhige See, aber kritisch war es dennoch. Das Ruder ließ sich nicht zurücklegen.«
»Und was war der Grund?«
Roberts schwieg einen Moment.
»Wir wissen es nicht. Wir wissen nur, dass der Schlamassel jetzt erst richtig losging. Die Barrier Queen stoppte die Maschinen, funkte ›Mayday‹ und wartete. Sie war eindeutig manövrierunfähig. Verschiedene Schiffe im Umkreis änderten vorsorglich ihren Kurs und hielten auf die Stelle zu, und in Vancouver setzten sich zwei Bergungsschlepper in Bewegung. Sie trafen zweieinhalb Tage später ein, am frühen Nachmittag. Ein 60-Meter-Hochseeschlepper und ein 25-Meter-Boot. Das Schwierigste ist immer, die Leine vom Schlepper so auszuwerfen, dass sie an Bord aufgefangen wird. Bei Sturm kann das Stunden dauern, ein endloses Procederé, erst die dünne Leine, dann die nächstdickere, dann die schwere Trosse. Aber in diesem Fall … Es hätte kein Problem darstellen sollen, das Wetter war unverändert gut und die See ruhig. Aber die Schlepper wurden gehindert.«
»Gehindert? Von wem?«
»Na ja …« Roberts verzog das Gesicht, als sei es ihm peinlich weiterzusprechen. »Es sieht ganz so aus, als hätten … Mein Gott! Haben Sie je von Angriffen durch Wale gehört?«
Anawak stutzte.
»Auf Schiffe?«
»Ja. — Auf große Schiffe.«
»Das ist äußerst selten.«
»Selten?« Roberts horchte auf. »Aber es hat so was gegeben.«
»Es gibt einen verbrieften Fall. Er stammt aus dem neunzehnten Jahrhundert. Melville hat ihn zu einem Roman verarbeitet.«
»Sie meinen Moby Dick? Ich dachte, das sei nur ein Buch.«
Anawak schüttelte den Kopf.
»Moby Dick ist die Geschichte des Walfängers Essex. Er wurde tatsächlich von einem Pottwal versenkt. Ein 42-Meter-Schiff, aber aus Holz und wahrscheinlich schon ein bisschen morsch. Aber immerhin. Der Wal rammte das Schiff, und es lief innerhalb weniger Minuten voll. Die Mannschaft soll anschließend Wochen auf See getrieben sein in ihren Rettungsbooten … Ach ja, und es gibt zwei Fälle, die sich vergangenes Jahr vor der australischen Küste ereignet haben! In beiden Fällen wurden Fischerboote zum Kentern gebracht.«
»Wie geschah das?«