Gleichzeitig versetzte sie ihm einen Stoß, der ihn in das Chaos aus Flammen und glühenden Steinen auf dem Hof hineintaumeln ließ. Brenner fand nicht einmal Zeit, einen klaren Gedanken zu fassen. Die Bedeutung ihrer Worte, die Unmöglichkeit, daß sie in ihrem Zustand noch stehen, noch irgend etwas tun konnte, die Frage, woher sie wußte, wohin sie gehen sollten und vor allem, was noch passieren würde – all dies wurde ihm erst viel, viel später klar und ohne daß er auch nur auf eine dieser Fragen eine befriedigende Antwort gefunden hätte. Beinahe willenlos taumelte er neben ihr her über den brennenden Hof, direkt auf das Gebäude auf der anderen Seite zu, aus dessen Türen und Fenstern noch immer Flammen schossen. Die Hitze nahm noch zu, aber Astrid trieb ihn unbarmherzig vorwärts, mit einer Kraft, die ihn überrascht hätte, hätte er in diesem Moment auch nur einen klaren Gedanken fassen können.

Er konnte es nicht. Hätte er es gekonnt, wäre er vermutlich stehengeblieben und gestorben. Astrids verbrannte Hände stießen ihn unbarmherzig vorwärts. Er stolperte, stürzte und wurde wieder in die Höhe gerissen, ehe er auch nur den Schmerz registrieren konnte, der durch seine Hände schoß, als er versuchte, seinen Sturz auf dem glühendheißen Boden abzufangen.

Mehr gestoßen und gezerrt als aus eigener Kraft erreichte er das andere Ende des Hofes und die feuergeschwärzte Wand. Er sah erst jetzt, daß eine derTüren nicht aus den Angeln gerissen oder einfach pulverisiert worden war; eine niedrige, aber ungemein massiv wirkendeTür mit einem gewaltigen Schloß. Astrid versetzte ihm einen Stoß, der ihn haltlos gegen die Wand neben der Tür schleuderte, ließ endlich seine Schulter los und berührte die Tür. Brenner konnte nicht sehen, was sie tat, er war ganz sicher, daß sie ganz bestimmt keinen Schlüssel oder etwas Ähnliches hatte – aber plötzlich schwang die Tür auf und gab den Blick auf einen halbrunden, gemauerten Gang frei, der nach kaum zwei Schritten in die ersten Stufen einer steil nach unten führenden, ausgetretenenTreppe überging.

»Lauf!« schrie Astrid. »Schnell!«

Gleichzeitig packte sie seine Schulter, riß ihn ohne erkennbare Mühe herum und versetzte ihm einen Stoß, der ihn in den Gang um ein Haar kopfüber die Treppe hinuntergeschleudert hätte. Im allerletzten Moment fand er an den rauhen Steinwänden rechts und links der obersten Stufe Halt und kämpfte eine Sekunde mit verzweifelter Kraft um sein Gleichgewicht. Die Treppe verschwand nach wenigen Stufen in stygischer Finsternis, so daß er nicht sagen konnte, wie lang sie war. Aber er spürte, daß sie weit in dieTiefe führte; sehr weit.

»Lauf! « schrie das Mädchen noch einmal. »Rette dein Leben, denn du bist unschuldig! «

Vielleicht war es die ungewöhnliche Wahl dieser Worte, die ihn innehalten ließ; vielleicht fand er auch in diesem Moment zum erstenmal zumindest ein wenig in die Wirklichkeit zurück, die so jäh zu einem Alptraum geworden zu sein schien – aber Brenner lief nicht weiter, sondern drehte sich um und sah Astrid an.

Er kam niemals dazu, seine Frage zu stellen oder überhaupt irgend etwas zu tun, geschweige denn, zu begreifen, was geschah. Alles passierte in einer einzigen Sekunde, vielleicht weniger, aber er sah, hörte, fühlte und roch plötzlich mit geradezu phantastischer Schärfe, jener Klarheit, die nur Momente absoluter Todesgewißheit hervorzubringen vermochte:

Er sah Astrid, die mit weit ausgebreiteten Armen vor ihm stand, verbrannt, auf schreckliche Weise verletzt und doch

ohne eine Spur von Schmerz oder Furcht in den Zügen, aber er sah auch den Helikopter, der über und hinter ihr über dem Dach des Klosters erschien, wie ein brennender Stern, der vom Himmel taumelte, kippte –

Und explodierte.

Das letzte, was Thomas Brenner wahrnahm, war eine lodernde Feuerwalze, die sich brüllend vom Himmel herabsenkte und die Gestalt des Mädchens in einen Mantel aus Flammen hüllte. Dann ergriff ihn die Druckwelle und schleuderte ihn rücklings dieTreppe hinunter.

Hinterher wußte Salid selbst nicht genau, wie er das Ufer erreicht hatte. Vielleicht war es purer Zufall, daß ihn seine instinktiven Schwimmbewegungen in die richtige Richtung gebracht hatten, vielleicht auch das letzte der zahllosen Wunder, denen er seine Rettung bisher verdankte. Irgendwann gruben sich seine Hände plötzlich in warmen Schlamm, undseine Überlebensinstinkte ließen seine Finger sich krümmen und zupacken. Mit letzter Kraft schleppte er sich das flache Ufer hinauf und blieb liegen. Er hatte nicht mehr die Energie, ganz aus dem Fluß zu kriechen. Vom Bauchnabel abwärts lagen sein Körper und seine Beine noch im Wasser. Aber er war zumindest nicht mehr in Gefahr zu ertrinken.

Salids verbissener Kampf gegen die Bewußtlosigkeit und damit vielleicht den Tod dauerte lange, und er hätte ihn wahrscheinlich verloren, wäre nicht ein Verbündeter des Todes plötzlich und unfreiwillig zu seinem Helfer geworden. Das Wasser wurde immer kälter. Seine Beine begannen zu prickeln, und er konnte spüren, wie sein Körper von den Füßen aufwärts allmählich taub wurde. In dem Zustand halber Bewußtlosigkeit, in dem er am Ufer lag, sah er sic h plötzlich selbst, wie sie ihn finden würden, wenn sie nachsehen kamen, was hier passiert war: tot, von den Hüften abwärts in einen kompakten Eisblock eingefroren, aus dem man seinen Leichnam heraushacken mußte, wie den des Steinzeitmannes, den sie vor ein paar Jahren in den Alpen entdeckt hatten.

Irgendwie gab ihm diese absurde Vorstellung die Kraft, sich weiter das Ufer hinaufzuziehen und auf den Rücken zu wälzen. Salid war dabei nur auf die Kraft seiner Arme angewiesen. Seine Beine waren taub und gehorchten ihm nicht mehr.

Trotzdem explodierte ein entsetzlicher Schmerz in seiner Hüfte, als er sich herumdrehte. Salid keuchte, biß die Zähne zusammen, um einen Schrei zu unterdrücken, und sah an sich herab.

Der Morast neben seinem Bein hatte sich rosa gefärbt. Wo die aufgesetzte Jackentasche gewesen war, erblickte er nun ein zerfetztes Loch, unter dem rohes Fleisch sichtbar war. Im ersten Moment glaubte er, sich die Verletzung irgendwo im Fluß zugezogen zu haben, aber dann erinnerte er sich an den Schlag, der ihn aus dem Helikopter geworfen hatte. Eines der MG-Geschosse hatte ihn getroffen. Salid hatte es nicht einmal gespürt. Bisher.

Dafür machte sich die Wunde jetzt um so deutlicher bemerkbar. Und er wußte, daß das erst der Anfang war. Die Kälte betäubte seine Nerven, aber es war nur ein flüchtiger Aufschub, den er um so teurer würde bezahlen müssen. Die Wunde blutete nicht einmal sehr stark, aber Salid sah Knochensplitter hervortreten.

Ganz plötzlich wurde ihm klar, daß es vorbei war. Selbst wenn er die nächste Stunde überlebte und selbst wenn er entkam – Salid wagte nicht zu schätzen, welche von beiden Möglichkeiten die unwahrscheinlichere war – , würde er nie wieder der sein, der er noch vor einer Stunde gewesen war. Er war schwer verletzt und würde nie wieder richtig gehen können. Sein Gesicht war verbrannt; Salid hatte genug Verbrennungen gesehen, um zu wissen, daß er deutliche Narben zurückbehalten würde. Welche Verletzungen er noch davongetragen hatte, wußte er nicht, aber er wußte, daß es welche gab. Im gleichen Maße, in dem die lähmende Kälte nachließ, meldeten sich die Schmerzen. Überall. Es war ein Wunder, daß er sich überhaupt noch bewegen konnte. Aus Abu el Mot, dem Vater des Todes, war Salid der Krüppel geworden, das Narbengesicht – in einem einzigen, unachtsamen Moment, wegen der Unerfahrenheit eines Piloten und seines eigenen Leichtsinns, nicht auf das ungute Gefühl gehört zu haben, das ihn warnte.

Jeder andere an seiner Stelle hätte jetzt vielleicht aufgegeben. Doch Salid empfand keine Verzweiflung, sondern eine tiefe, fast schon heitere Gelassenheit, die ihn mit Kraft aus einer neuen, bisher unbekannten Quelle versorgte. Er bildete sich nicht ein, noch irgend etwas gewinnen zu können. Er bildete sich nicht ein, überleben zu können. Abu el Mot hatte seinen letzten Kampf gekämpft und verloren. Er hatte als Krieger gelebt, und er war als Krieger gestorben.


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