»Gleich… gleich stehe ich auf… noch eine Minute…«
»Lion!«, rief ich laut.
»Ja, gleich…«, brummte er unzufrieden.
Es schien, als wäre er völlig normal.
»Lion!«, schrie ich, sprang auf, lief zu seinem Bett und rüttelte ihn an den Schultern. »Wach auf, es ist höchste Zeit!«
Er öffnete die Augen.
»Lion, steh auf«, bat ich kläglich.
Und er stand gehorsam auf. Er gähnte und zitterte vor Kälte — für die Nacht hatte ich eine zu niedrige Zimmertemperatur eingestellt und die Heizung war noch nicht angesprungen.
»Lion…«
Er wartete geduldig.
Ich setzte mich auf sein Bett und sagte: »Verzeih mir, ich dachte, dass es dir besser gehen würde. Verstehst du?«
Lion schwieg.
»Du verstehst alles, das weiß ich«, erklärte ich und schaute dabei nicht auf ihn, sondern durch das Fenster auf die Morgenröte, »du verstehst alles und quälst dich. Lion, bitte, kämpfe! Zwinge dich, Lion. Du wirst auf alle Fälle gesund, das sagen alle. Aber es kann einige Jahre dauern. Wir werden erwachsen und verändern uns. Dabei haben wir uns doch gerade erst angefreundet. Stimmt’s?«
Er schwieg.
»Setz dich«, bat ich und Lion setzte sich. Ich warf ihm eine Decke über die Schultern und sagte: »Weißt du, ich habe doch überhaupt niemanden. Da sind Gleb und Dajka, das sind meine Freunde vom Karijer. Aber sie sind weit weg, so, als ob es sie nicht gäbe. Es bleibt nur die Erinnerung. Und Mama und Papa sind gestorben. Damit ich leben kann. Stasj ist auch noch da, aber er lebt sein eigenes Leben und hat zu tun, ich habe ihn schon zwei Wochen nicht gesehen. Dann kenne ich noch Tarassow, ich habe dir von ihm erzählt, er ist mein Arbeitskollege. Es gibt Rosi und Rossi, aber sie sind… sie sind total kindisch, verstehst du? Ehrlich gesagt, haben sie von nichts eine Ahnung. Sie leben auf einem zu guten Planeten. Ich würde auch gern so sein, aber ich kann nicht, ich bin schon geboren worden. Du aber bist anders, du verstehst mich, das spüre ich.«
Lion sagte kein Wort.
»Und dann habe ich auch noch eine Dummheit gemacht…«, flüsterte ich, »eine fürchterliche, idiotische Dummheit.«
Ich hob meine rechte Hand und zeigte Lion die Schlange, die sich darumwand. Als ob ich eine Äußerung erwartete.
»Sie werden es herausfinden«, meinte ich, weil ich dessen auf einmal sicher war, »sie werden es herausfinden. Früher oder später werden sie alles herausfinden. Und dann bleibt mir niemand mehr übrig. Stasj wird nicht einmal mehr mit mir reden wollen. Und entlassen werde ich auch. Lion, streng dich bitte an! Versuch, schneller wieder auf die Beine zu kommen! Vielleicht fällt uns beiden gemeinsam etwas ein.«
Lion schwieg.
»Leg dich hin«, bat ich, »leg dich hin, schlaf noch ein wenig, wenn du willst. Wir werden heute Rosi und Rossi besuchen und zusammen spielen. Du hast doch nichts dagegen, sie ärgern dich doch nicht etwa?«
»Sie ärgern mich nicht«, antwortete Lion, weil er meine Worte als richtige Frage verstanden hatte.
Ich zog seine Decke zurecht und lief ins Wohnzimmer. Ich stellte den Fernseher an und zog die Füße auf den Sessel.
Im Wohnzimmer war es wärmer.
Was sollte ich jetzt nur tun?
Die Schlange an meinem Arm hob den Kopf, als ob sie herausfinden wollte, aus welcher Richtung Gefahr drohte.
»Wenn du wenigstens weg wärst!«, sagte ich durch meine Tränen. Zu Rosi und Rossi gingen wir nicht.
Rossi rief gegen acht Uhr an. Wenn er gewusst hätte, dass ich schon um fünf Uhr morgens wach war, hätte er auch um fünf angerufen.
»Tikkirej, wir haben eine Idee!«, legte er los, ohne Guten Tag zu sagen.
»Ich bin mit allem einverstanden«, erwiderte ich. Ich hatte keine Lust mehr, vor dem Fernseher zu sitzen.
Rossi kicherte. »Vater hat uns das Auto gegeben! Wollen wir in den Wald fahren und picknicken?«
»Hast du etwa die Fahrerlaubnis?«, wunderte ich mich.
»Ich nicht«, meinte Rossi sauer. »Rosi kann fahren, sie hat die Fahrerlaubnis. Aber eine eingeschränkte, nur in Begleitung eines Erwachsenen.«
»Und wer fährt mit?«, äußerte ich mein Unverständnis.
»Idiot! Du fährst mit! Juristisch gesehen bist du erwachsen, also kann uns niemand etwas anhaben!«
»Dafür habt ihr die Erlaubnis bekommen?«
Rossi kicherte wieder. »Warum nicht? Weißt du, wie dir unsere Eltern vertrauen? ›Ein sehr ernst zu nehmender junger Mann, und nur um weniges älter als ihr!‹«
Es gelang ihm gut, die Stimme seines Vaters nachzuahmen.
»Ich bin wirklich ernst zu nehmen«, erwiderte ich nach eiligem Überlegen. »Einverstanden!«
»Wir kommen in einer Viertelstunde vorbei«, meinte Rossi, »Vater fährt mit uns zu dir, damit alles seine Ordnung hat. So. Nein, nicht in einer Viertelstunde, in einer halben Stunde, ruft er, er muss sich noch rasieren.«
»Gut, bis dahin ist Lion fertig«, willigte ich ein.
Rossi war das, so glaubte ich, nicht ganz recht. Aber er antwortete würdevoll:
»Richtig, frische Luft tut ihm sehr gut. Nimm ihn mit. Und zieht euch warm an! Und außerdem…« Er senkte seine Stimme zu einem kaum verständlichen Flüstern: »Nimm etwas zu trinken mit!«
»Was?«
»Na ja, Bier… Ich weiß nicht, was. Bier oder Wein, entscheide selbst! An dich wird es doch verkauft! Also, bis gleich.«
Ich beendete das Gespräch und lachte auf. Dachten sie etwa, dass ein Trinkgelage interessant wäre?
»Kinder«, sagte ich und ging Lion wecken. Bier hatte ich im Kühlschrank, eine ganze Packung. Nicht für mich, sondern falls sich Stasj entschließen würde, bei uns vorbeizuschauen. Lion sah normal aus. Wie ein wohl erzogenes Kind, das im Hauseingang steht, warm angezogen, und geduldig auf jemanden wartet.
Ich trug eine Schultertasche mit Bier, belegten Broten und einer Packung mit einem sich selbst erhitzenden geräucherten Hähnchen.
Rosi und Rossi ließen uns nicht warten, sie fuhren nach genau einer halben Stunde vor. Am Lenkrad saß voller Stolz Rosi mit einer Strickmütze und einer grellen Wolljacke. Aufgedonnert war sie, als ob sie ins Konzert wollte und nicht zum Picknick an den See. Rossi war einfacher und praktischer angezogen. Er trug eine synthetische Kombination, in der man ruhig in den Schnee fallen oder im Eiswasser baden konnte.
Ihr Vater saß vorn neben der Tochter. Er war sehr groß, breitschultrig und hatte eine dichte Haarmähne. Bei ihm würde man nie denken, dass er einen friedlichen und beschaulichen Beruf hatte: Theaterkritiker. So stellte er sich allen vor, mir auch: »Theaterkritiker mit den tolerantesten Ansichten.«
Er stieg als Erster aus dem Auto. Rosi bummelte beim Abschnallen herum. Rossi verhedderte sich meines Erachtens in seinen eigenen Armen und Beinen, während mir ihr Vater bereits die Hand drückte und seinen Bass erklingen ließ:
»Guten Morgen, junger Mann.«
»Guten Morgen, William«, erwiderte ich. Er verlangte, ihn nur mit dem Vornamen anzureden und »nicht auf den Altersunterschied zu achten«. Als ob ich mich dadurch unbefangener fühlenwürde. Stasjignorierte den Altersunterschied nicht und mit ihm war es wesentlich einfacher.
William räusperte sich und flüsterte verschwörerisch: »Ein herrlicher Morgen, um meinen Taugenichtsen eine kleine Lektion im Erwachsenwerden zu verabreichen, stimmt’s, Tikkirej?«
»Ja, William«, antwortete ich nachgiebig.
William warf einen Blick auf seine Taugenichtse, zwinkerte mir zu und sagte leise: »Sicher habt ihr Bier oder Wein mitgenommen. Nein, du musst nicht antworten, Tikkirej, ich erinnere mich noch gut daran, wie ich selbst als Jugendlicher war. Aber ich bitte dich als selbständigen und verantwortungsbewussten Menschen, darauf zu achten, dass sich Rosi nicht eher als drei Stunden nach Alkoholgenuss ans Steuer setzt!«
»Ich werde mich darum kümmern«, sagte ich.
Erst danach wandte sich William Lion zu und sagte: »Guten Morgen, Junge!«
Ein »junger Mann« war nur ich für ihn.
»Guten Morgen«, erwiderte Lion artig.