Nein! Ich sah und hörte das, was seine Peitsche sah und hörte!
Ich wunderte mich nicht besonders darüber, denn ich wusste, dass die Schlangenschwerter viele Fähigkeiten besaßen. Es war nur erstaunlich, dass meine Schlange und Stasj’ Peitsche in Verbindung getreten waren.
»Letztendlich, was bringt die Entführung der Peitsche?«, fragte jemand anderes. »Ich tendiere dazu, dass Stasj Recht hat… in diesem Punkt. Achtzehn Peitschen der betreffenden Modifikation gingen verloren. In drei Fällen wissen wir mit Sicherheit, dass sie in die Hände asozialer Elemente fielen. Sogar wenn es jemandem gelingen sollte, den Bauplan zu kopieren…« Der Sprecher winkte verächtlich ab.
Einer, der an der Tischmitte gegenüber Stasj saß, äußerte leise, aber nachdrücklich: »Dann schlage ich vor, diesen Punkt abzuhaken. Es ist viel wichtiger, zu entscheiden, was wir mit dem Jungen machen werden!«
Es wurde still. Jemand erhob sich.
Stasj ergriff erneut das Wort: »Warum sollten wir nicht alles beim Alten belassen?«
»Die Peitsche.«
»Im jetzigen Zustand ist es keine Waffe.«
»Stasj, Sie wissen genau, wie einfach es ist, ihr das Kampfpotenzial zurückzugeben.«
»Tikkirej wird das nicht tun. Trotz seiner Jugend besitzt er Verantwortungsgefühl. Das Leben auf Karijer…«
»Stasj, egal wie, wir haben kein Recht dazu, die Waffe einem Menschen zu übertragen. Weder einem Kind noch einem Erwachsenen.«
»Ihm die Peitsche, die sich ihm angeschlossen hat, wegzunehmen bedeutet, die Waffe zu zerstören. Ohne Meister kann sie nicht überleben. Und der Junge versteht das.«
Recht lange erfolgte keine Erwiderung. Ich erblickte ein unscharfes Bild, dann bewegte Stasj seine Hand und ich sah nur noch die Tischplatte. Hören konnte ich nach wie vor nur die müde und erschöpfte Stimme dessen, mit dem Stasj diskutierte: »Die Peitsche verleiht dem Jungen zu viele Fähigkeiten, über die ein gewöhnlicher Staatsbürger nicht verfügen sollte. Die, zum Beispiel, dass Tikkirej bereits seit vier Minuten unser Gespräch verfolgt.«
Ich erstarrte vor Schreck. Riss meine Augen auf und verließ die virtuelle Realität, als ob das jetzt noch etwas ändern könnte. Ich spürte, wie sich die Schlange eilig aus dem Shunt entfernte und unter meine Kleidung kroch.
Und ich erblickte den vor mir hockenden und traurig schauenden betagten Mann.
Er war ein Mulatte, kurz geschoren, ich hatte ihn noch nie gesehen, aber er hatte etwas von Stasj an sich. Auch ein Phag.
»Du brauchst keine Angst vor mir zu haben«, sagte der Mulatte leise und melodiös.
Ich nickte.
»Kanntest du die Fähigkeit der Peitsche, eine Kommunikation aufzubauen?«, fragte der Mann ruhig und gar nicht ärgerlich.
»Nein.« Ich schüttelte den Kopf.
»Du besitzt eine bemerkenswerte Gabe, in Fettnäpfchen zu treten, Tikkirej.« Er legte mir seine Hand auf die Schulter. »Gehen wir, Kleiner. Es gibt keinen Grund, dich jetzt noch hier sitzen zu lassen, stimmt’s?«
Ich antwortete nicht, sondern schlich hinter ihm her, ganz wie zu einer Hinrichtung.
Eigenartigerweise verspürte ich keine Furcht.
Die Fahrt im Fahrstuhl dauerte vielleicht eine halbe Minute. Wir kamen in demselben Saal an, den ich vor kurzem in der virtuellen Realität gesehen hatte. Ich suchte Stasj mit meinem Blick — und rannte auf ihn zu. Er schüttelte lediglich vorwurfsvoll den Kopf, sagte aber nichts.
Ich schaute auf die Phagen.
Alles war leicht abgeändert. In der Luft hing ein leichtes Flimmern wie über einer Asphaltstraße an einem heißen Tag. Tisch und Zimmer erkannte ich deutlich. Die an dem Tisch Sitzenden sah ich jedoch nur in groben Umrissen. Auch die Stimmen schienen verändert. Nur Stasj und der Mulatte, der mich hergebracht hatte, waren deutlich zu erkennen.
»Erschrick nicht, Tikkirej«, sagte der, mit dem Stasj diskutiert hatte. Sicher war er einer der Obersten bei den Phagen. »Du musst unsere Gesichter nicht sehen.«
»Ist gut«, sagte ich. »Und ich habe keine Angst. Ist das wegen der Hypnose?«
»Ja. Du brauchst wirklich keine Angst zu haben. Du bist dir darüber im Klaren, was gerade vor sich geht?«
»Ja. Sie entscheiden, was aus mir wird.«
»Möchtest du uns irgendetwas sagen?«
Ich schwieg und versuchte, überzeugende Worte zu finden. Es fiel mir nichts Besonderes ein.
»Es tut mir leid, was passiert ist«, äußerte ich mich endlich. »Aber ich bin kein Spion. Und die Peitsche habe ich deshalb genommen, weil sie sich mir angeschlossen hat. Sie hat mir leidgetan… Sie lebt doch.«
»Tikkirej, wir befinden uns in einer äußerst schwierigen Lage. Es geht nicht einmal darum, dass du etwas streng Geheimes erfahren hättest. Glücklicherweise ist das nicht der Fall. Aber wir können dir die Peitsche nicht lassen. Das ist dasselbe, als ob man einem Neugeborenen eine Atombombe in die Hände geben würde.«
»Ich bin kein Neugeborenes«, erwiderte ich beleidigt.
»Du hast mich nicht verstanden«, erklärte der hinter der Luftspiegelung versteckte Phag geduldig. »Die Fähigkeit, eine Peitsche zu beherrschen, ist nicht nur eine schwierige Kunst. Die Peitsche reagiert auf alle deine Wünsche, sogar auf die unbewussten. Wenn du ein fremdes Gespräch mithören willst — die Peitsche fängt das Signal auf. Sogar ohne das Hauptteil der Energieversorgung ist sie eine Waffe — eine gefährliche Waffe im Nahkampf. Deine übermütigen Altersgenossen schubsen dich — und die Peitsche wertet die Situation als Gefahr und schneidet ihnen die Hände ab. Verstehst du das?«
Ich biss mir auf die Lippen und nickte.
»Tikkirej, bist du damit einverstanden, die Peitsche zurückzugeben?«
»Wird sie dann sterben?«, fragte ich. Und fühlte dabei, wie sich etwas auf meinem Arm bewegte.
»Ja. Eine Peitsche schließt sich kein zweites Mal jemandem an. Das ist einer der Verteidigungsmechanismen.«
Ich umfasste mit der linken Hand meine rechte und streichelte die Schlange durch die Kleidung. Dann wollte ich wissen: »Vielleicht könnte man doch etwas machen? Ich könnte ganz allein leben… irgendwo. Um kein Unheil anzurichten. Es gibt doch solche Leute, die isoliert arbeiten, auf Raumstationen oder so ähnlich…«
Die Phagen schwiegen. Dann erklärte mir Stasj: »Tikkirej, du hast nur das Recht, diese Waffe zu besitzen, wenn du ein Phag bist. Du kannst nur dann ein Phag werden, wenn du schon vor deiner Geburt genetisch verändert wurdest. Wir stecken also in einer Sackgasse.«
»Aber man könnte doch eine Ausnahme machen!«
»Nein«, antwortete Stasj, »die ganze Tragik, mein Junge, besteht darin, dass es einige Regeln gibt, die wir Phagen unbedingt beachten müssen. Wir sind genetisch dazu bestimmt, sie einzuhalten: — Ein Phag darf niemals sein Wort brechen. — Ein Phag darf seine Fähigkeiten niemals zur Erringung
persönlicher Macht benutzen. — Ein Phag darf niemals die Treue gegenüber der gesetzmäßig
herrschenden Regierung der Menschheit brechen. — Ein Phag darf einer Zivilperson keine besonders gefährlichen
Ausrüstungsgegenstände übergeben… Dazu gehört auch eine
Plasmapeitsche.«
Beinahe hätte ich angefangen zu lachen. »Aber das ist doch idiotisch! Die Armee hat viel schrecklichere Waffen! Und irgendein Offizier, der wirklich kein Phag ist, kann auf einen Knopf drücken und einen ganzen Planeten zerstören! Was ist im Vergleich dazu ein Schlangenschwert?«
»Du hast Recht«, stimmte Stasj zu. »Aber wir können diese Regel nicht brechen.«
Ich blickte auf die am Tisch Sitzenden. Mir schien, dass ich hinter den verschwommenen Abbildern die Gesichtsausdrücke erraten konnte. Ich tat ihnen allen leid. Sie waren alles andere als erfreut, sich mit einem Jungen herumschlagen zu müssen, der durch ihre eigene Schuld eine Waffe in die Hand bekommen hatte.
»Sie sind doch erwachsene Menschen«, versuchte ich sie zu überzeugen, »intelligent und wohlwollend. Es kann doch nicht sein, dass Sie keinen Ausweg finden! Sie möchten mir doch helfen, dann helfen Sie auch!«