Stasj’ Gesicht verzog sich zu einer Leidensmiene. Jemand anders murmelte: »Wenn wir nur könnten…«
»Tikkirej, gefällt es dir auf dem Avalon?«, fragte plötzlich der Mulatte.
Ich nickte.
»Es gibt eine Regelung für das Amt der zeitweiligen Bevollmächtigten«, stellte der Mulatte in den Raum.
»Ein Teil der Information und Ausrüstungsgegenstände wird übertragen. Bedingung sind Kontrolle und Einschränkung der Anwendungsmöglichkeiten«, zitierte Stasj atemlos.
»In einer Krisensituation«, erwiderte der Mulatte ebenfalls mit einem Zitat aus einem unsichtbaren Dokument. »Genau damit hast du doch schon begonnen, nicht wahr? Als du Tikkirej darum gebeten hattest, dir auf Neu-Kuweit zu helfen.«
»Danke, Ramon. Das könnte man…«
Der Phag, der an der Stirnseite des Tisches stand, räusperte sich und ergänzte: »Wenn dergleichen für die Erfüllung einer operativen Aufgabe von besonderer Wichtigkeit erforderlich ist.«
Daraufhin verstummten alle. Irgendetwas überdachten sie jetzt, und mir gefiel gar nicht, wie konzentriert sie dies taten.
»Tikkirej«, begann Ramon, »es gibt eine Möglichkeit. Aber sie ist nicht besonders empfehlenswert.«
»Sprechen Sie«, bat ich. Ich warf einen Blick auf Stasj. Sein Gesicht war eisern, fast versteinert.
»Ist dir bekannt, was auf Neu-Kuweit vor sich geht?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Uns auch nicht, mein Junge. Wir bereiten gerade einen Einsatz auf diesem Planeten vor. Drei Phagen werden versuchen herauszufinden, was aus der Bevölkerung geworden ist, die der Psychoattacke des Inej ausgesetzt war. Wenn du mit nach Neu-Kuweit gehst, haben wir das Recht, dir den Status eines zeitweisen Bevollmächtigten zuzuerkennen. Und du kannst die Peitsche behalten… natürlich ohne den Hauptakkumulator.«
Ich überlegte.
Ich fühlte keine Furcht, nur Erstaunen darüber, wie einfach sich alles löste.
»Ist das für lange?«, wollte ich wissen.
»Ich gehe von zwei bis drei Monaten aus«, erwiderte der oberste Phag. »Dann holen wir dich wieder heraus. Deine Wohnung, deine Arbeit — all das wird hier auf dich warten.«
»Die Sache mit der Schule werden wir klären können, denke ich«, ergänzte jemand und lachte gutmütig.
»Und worin wird meine Aufgabe bestehen?«, erkundigte ich mich.
»Es ist nichts Außergewöhnliches: Beobachten und daraus Schlüsse ziehen. Jede beliebige Information wird für uns äußerst nützlich sein… für euch… für das Imperium.«
»Und das Schlangenschwert? Danach, wenn ich zurück bin?«
Ramon hob seine Schultern: »Fristen für die Rückgabe eines begrenzt zur Verfügung gestellten Ausrüstungsgegenstands sind im Gesetz nicht geregelt. Du kannst sie behalten!«
Ich schaute zu Stasj. Sein Gesichtsausdruck gefiel mir nicht.
»Und Lion?«, fragte ich.
»Was hat Lion damit zu tun?« Ramon war genervt.
»Was wird aus ihm?«
»Unsere Wissenschaftler versuchen festzustellen, welchen Einfluss das Programm, das du so erfolgreich unterbrochen hast, auf ihn hatte. Dann werden wir ihm bei der Erlangung der Staatsbürgerschaft behilflich sein und…«
»Lion wird mit mir kommen«, sagte ich.
Eine leichte Unruhe ging durch den Saal.
»Warum?«, erkundigte sich Ramon mit Unverständnis in der Stimme.
»Weil sie Freunde sind«, antwortete Stasj für mich, »und weil Lions Familie auf Neu-Kuweit zurückgeblieben ist.«
»Würde er denn zurückkehren wollen?« Ramon zog seine Stirn in Falten. Ich hatte den Eindruck, als ob sich auf einmal zwischen Stasj und Ramon eine negative Stimmung aufgebaut hätte, zwischen ihnen etwas unausgesprochen blieb.
»Das wird man ihn fragen müssen«, meinte Stasj.
Erneut ergriff der Phag an der Stirnseite des Tisches das Wort: »Meine Herren, meinen Sie nicht auch, dass wir die Dinge übereilen? Soll Tikkirej erst einmal über unseren Vorschlag nachdenken, ehe er eine Entscheidung trifft. Ich hoffe trotz allem, dass er sich dazu entschließt, die Peitsche abzugeben und auf dem Avalon zu bleiben. Sein Freund wird ebenfalls eine Entscheidung treffen müssen. Wenn die Jungs trotzdem beschließen sollten, nach Neu-Kuweit zu fliegen, dann schlage ich vor, dass Ramon die Vorbereitung dieser Operation in die Hand nimmt.«
Ein Stimmengewirr erhob sich. Alle vertraten die Meinung, dass es nicht nötig sei, etwas zu übereilen, und dass »das Bürschchen« Zeit zum Nachdenken bräuchte.
»Ich bringe den Jungen nach Hause«, sagte Stasj und berührte meine Schulter. »Ich danke… allen.«
Er sah wieder zu Ramon und einige Sekunden lang examinierten die zwei Phagen einander. Dann zuckte Ramon unbeholfen mit den Schultern und wandte seinen Blick ab. Unten in einer gemütlichen Bar warteten wir noch zwei Stunden auf Lion. Stasj machte einen fröhlicheren Eindruck und sprach nicht mehr über Dienstliches. Er sagte, dass er heute nicht weiter an der Beratung teilnehmen müsse, und bestellte sich einen Cocktail nach dem anderen.
Ich trank Saft, in den der fröhliche Barkeeper »für ein besseres Aroma« einen Teelöffel Apfelsinenlikör gab. Dann fing Stasj an, mir beizubringen, wie man vom äußeren Erscheinungsbild eines Menschen auf seine Stimmung und seinen Charakter schließen könne. Ich glaube, er meinte das nicht ganz ernst, aber wir hatten Spaß.
Es waren nur wenige Gäste in der Bar, vielleicht zehn Personen, aber keine Phagen. Über jeden erzählte Stasj etwas Lustiges.
Und nicht ein einziges Mal etwas Anstößiges.
Lion kam gemeinsam mit Doktor Anna Goltz nach unten (oder nach oben, wenn es unterirdische Stockwerke waren). Er hatte keine Angst mehr und sah nicht bedrückt aus.
Im Gegenteil, er lachte, und als ihn Anna zum Abschied umarmte, wurde er rot.
»Na, wie ist er?«, fragte Stasj kurz und nickte Anna wie einer alten Bekannten zu.
»Ich glaube«, Anna wurde sofort ernst, »dass es dieser junge Mann rechtzeitig geschafft hat.«
Ich begriff, dass sie über mich sprach.
»Ist etwas dabei herausgekommen?«, wollte Stasj wissen.
Anna schüttelte den Kopf.
Der Phag schien auch keine andere Antwort erwartet zu haben. Wir gingen zum Parkplatz.
»Bist du schlimm gequält worden?«, erkundigte ich mich leise bei Lion.
»Wir haben uns unterhalten«, antwortete Lion ernst. »Über meinen Traum.«
»Na und?«
»Anna meint, dass er keine wertvollen Informationen enthalten würde. Er wäre ein Propagandaprogramm, das unterbrochen wurde, bevor es aktiv werden konnte. Jetzt würde es allmählich verblassen und in Vergessenheit geraten wie ein gewöhnlicher Traum. Am Ende hätte etwas Wichtiges kommen müssen… weswegen die Leute an Inej glauben. Aber bei mir hat dieser Teil nicht funktioniert.«
»Also bist du wieder normal?«, wollte ich wissen und ergänzte schnell: »Sie halten dich nicht für einen Feind?«
»Nein«, Lion schüttelte energisch den Kopf. »Ich werde noch einen ausführlichen Bericht über meinen Traum verfassen, Fragebögen ausfüllen und einige Tests bestehen müssen. Und das ist alles, mehr wird nicht gefordert.«
Stasj dirigierte ihn zum »Dunaj«.
Ich setzte mich neben Lion auf den Rücksitz, Stasj nahm hinter dem Lenkrad Platz und stellte die Automatik an. Gleich darauf fragte er: »Wirst du den Vorschlag des Rats annehmen, Tikkirej?«
»Welchen Vorschlag?«, fragte Lion flüsternd. Vorläufig würde ich ihm noch nichts verraten.
»Ja, Stasj.«
»Ich glaube nicht, dass das Spiel seinen Einsatz lohnt, Tikkirej.« Stasj schüttelte zweifelnd den Kopf. »Eine Peitsche ist kein Lebewesen. Sie ist eine Sache. Verwechsle das nie!«
»Nicht ganz«, sagte ich störrisch.
Stasj holte Luft und rieb seine Stirn.
»Selbst wenn! Sei es eine Verbindung aus Mechanik, Elektronik und lebendem Gewebe… Das ist nicht von Bedeutung. Was glaubst du, Tikkirej, wäre es denn vernünftig, sein Leben für die Rettung seines… na, sagen wir, geliebten Hündchens zu riskieren?«
»Es wäre unvernünftig.«
»Warum bist du dann dazu bereit, nach Neu-Kuweit geschickt zu werden?«