»Ich rette dich, wenn es so weit kommen sollte«, versprach ich. »Ich schlage dich bewusstlos und ziehe dich dann an den Haaren heraus.«
»Es darf aber nicht wehtun«, bat Lion mit ernstem Gesicht.
Wir schwiegen. Beide hatten wir eine Uhr, wollten jedoch nicht nach der Zeit schauen. Die Ziffern wechselten unendlich langsam, es schien, als ob sie eingefroren wären.
»Kennst du Horrorgeschichten?«, fragte Lion interessiert.
»Klar!«
»Erzählst du eine?«
Dummerweise fielen mir aber gerade jetzt keine ein! Ich erinnerte mich nur an eine völlig blödsinnige für Kleinkinder.
»Ein Junge kommt von der Schule nach Hause«, begann ich. »Und plötzlich sieht er, dass seine Eltern auf dem Tisch ihre Sozialkarte vergessen hatten. Nicht etwa, dass sie unordentlich waren, sie hatten es nur sehr eilig.«
»Und was ist eine Sozialkarte?«, wollte Lion wissen.
»Das ist… Na, so etwas wie eine Kreditkarte, nur dass dort die Rationen für die Lebenserhaltung aufgezeichnet sind. Du hast doch auf einer Station gewohnt, gab es so etwas bei euch nicht?«
»Nein, bei uns waren Luft und Wärme kostenlos«, erwiderte Lion mit schlechtem Gewissen. »Los, erzähl weiter!«
»Tja… Dieser Junge versteckte also die Sozialkarte im Schrank und fing an im Internet zu surfen. Er kam auf eine Seite mit dem Hinweis: ›Zugang nur für Erwachsene, Zugang für Kinder verboten.‹ Er gab selbstverständlich ein: ›Ich bin ein Erwachsener.‹ Daraufhin wurde ihm erwidert: ›Bitte die Nummer der Sozialkarte eingeben!‹ Er dachte sich nichts dabei und gab die Nummer ein. Tja, und so durfte er allen möglichen Unsinn anschauen… Er saß also am Laptop und hatte alles um sich herum vergessen. Plötzlich klingelte es. Er ging zur Tür, machte auf und sah eine Mitarbeiterin des Sozialdienstes. Die sagte: ›Junge, du atmest zu oft!‹ Der Junge erschrak und versprach, seltener zu atmen. Aber sie nahm ein Pflaster…«
Lion begann zu lachen.
»Was für ein Quatsch! Wenn du seltener atmest, verändert sich die Menge des verbrauchten Sauerstoffes nicht.«
Ich schwieg. Für ihn war die Geschichte wahrscheinlich wirklich nicht zu verstehen.
»Sei nicht beleidigt.« Lion knuffte mich mit dem Ellenbogen in die Seite. »Hör zu! Das ist jetzt eine ähnliche Geschichte, aber viel besser: Ein Junge hatte eine ältere Schwester. Sie durfte auf der Schattenseite spazieren gehen, bekam sogar einen neuen, roten Raumanzug geschenkt, den Jungen aber ließ man nicht. Sein Raumanzug war ganz einfach, einer für Kinder.«
»Wo durften sie spazieren gehen?«
»Auf der Schattenseite, dem äußeren Korpus der Station, auf der Unterseite. Dort gab es weder Gravitation noch Luft.«
»Aha«, sagte ich und stellte mir mit einigem Befremden einen derartigen Spaziergang vor. Was ist denn daran so reizvoll?
»Der Junge bat seine Schwester ständig, ihn mitzunehmen. Die Schwester jedoch antwortete: ›Nein, das geht nicht, du bist noch klein, du vergisst, die Sauerstoffpatrone zu überprüfen.‹ Die Sauerstoffpatrone ist übrigens zum Atmen, ein Regenerator im Raumanzug.«
Lion schüttelte energisch den Stoffsack — unseren hiesigen Regenerator. Er fuhr fort: »Hier ist es irgendwie stickig… Also, der Junge war natürlich beleidigt und setzte eines Tages an Stelle einer vollen — eine leere Patrone in den roten Raumanzug ein. Er dachte sich, wenn bei seiner Schwester der Sauerstoff zu Ende ginge, würde sie es noch mit der Reserve schaffen. Das Mädchen ging mit ihrem Freund auf der Unterseite spazieren, als ihr Freund plötzlich bemerkte: ›Irgendwie geht bei mir der Luftvorrat zu Ende! Kehren wir um!‹ Das Mädchen jedoch wollte nicht und gab ihm ihre Reservepatrone. Sie gingen weiter und plötzlich, du ahnst es, versiegte bei dem Mädchen die Luft. Sie erschrak und bat ihren Freund sofort darum, die Reservepatrone zurückzugeben. Dieser stand jedoch unter Schock. Und so starb das Mädchen. Am nächsten Abend lag ihr Bruder im Bett und weinte, weil es ihm um die Schwester leidtat. Er weinte, weinte und schlief ein. Plötzlich hörte er im Schlaf: ›Gib mir meine Ersatzpatrone!‹ Er öffnete die Augen — und in der Ecke stand der Raumanzug seiner Schwester, aufgeblasen, das Sichtglas von innen voller Blut! Er erschrak, lief zu seinen Eltern und erzählte ihnen alles. Daraufhin gaben ihm die Eltern eine volle Patrone und sagten: ›Wenn deine Schwester wiederkommt, sag ihr, dass das die Reservepatrone sei!‹«
»Haben sie ihn wenigstens kräftig verhauen?«, fragte ich voller Abscheu gegenüber dem Jungen. »Wegen seiner Schwester?«
»Er hat sicherlich etwas abgekriegt«, stimmte Lion zu. »Aber wenn die Schwester tot ist, was ist da noch zu ändern? Also, am nächsten Tag kam der Raumanzug wieder und sagte: ›Gib mir meine Reservepatrone!‹ Der Junge reichte ihm die Patrone, der Raumanzug schloss sie an, sagte lachend: ›Jetzt werde ich gleich genug Kraft haben, um dich zu erwürgen!‹, und öffnete das Ventil, um sich diese Kraft zu holen. Die Eltern ahnten jedoch, was er vorhatte, und gaben keine Patrone mit Sauerstoff, sondern mit Kohlenmonoxid. Der Raumanzug blies sich auf, wurde blau und platzte. Das Dumme war nur, dass der Junge trotzdem nicht überlebte, er starb vor Angst.«
»Bist du verrückt geworden?«, regte ich mich auf. »Was ist das denn für eine Geschichte, so ein Mist!«
»Warum?«
»Wie kann man denn Kohlenmonoxid in eine Pressluftflasche füllen? Hast du denn kein Chemie in der Schule gehabt? Nein, der Raumanzug muss ihn erwürgt haben…«
Lion dachte nach und erwiderte: »Wenn er erwürgt wird, tun einem die Eltern leid. Wenn ihm jedoch nichts passiert, dann wäre er ohne Strafe davongekommen.«
»Na und?«
»Ich glaube, dass sich Erwachsene diese Geschichten ausdenken«, meinte Lion. »Damit die Kinder keine Dummheitenmachen,keineKreditkartennummern herausgeben, nicht mit Sauerstoffflaschen herumspielen… Hör mal, findest du nicht, dass es hier stickig ist?«
Ich schaute angespannt auf das Säckchen.
»Nein, eigentlich nicht.«
»Uns wird von Kindheit an klargemacht, dass man keine Späße mit der Luft treiben darf«, sagte Lion, als ob er sich entschuldigen wollte. »Das ist ungeheuer wichtig. Wir lernen Gedichte darüber. ›Wenn der Wind an den Wänden rüttelt und die Sirenen heulen, weiß jeder — das ist nicht die richtige Zeit für einen Spaziergang. Geht der Sturm zurück und ist die Sirene verstummt, bedeutet das, man kann sich auf seiner Koje ausruhen.‹«
»Auf Karijer haben wir auch so etwas gelernt!«, sagte ich. »›Wenn du einen Riss, ein Loch, eine Kaverne gesehen hast, weiß natürlich jedes Kind — das ist sehr gefährlich!‹ Kennst du den Spruch über den Jungen, der ein Leck entdeckt und es mit seiner Hand zugehalten hat?«
»Hm«, bestätigte Lion.
Das Licht flackerte kurz auf.
»Was ist los?«, fragte Lion erschrocken. Er schaute auf die Uhr. »Tikkirej, noch drei Minuten!«
Wir streckten uns auf den Matten aus und schwiegen. Jetzt, wo wir nicht mehr durch unsere Unterhaltung abgelenkt waren, bemerkten wir ein leichtes Schaukeln des Raumschiffs. Die Gravitationskompensatoren konnten das Schwanken nicht völlig auffangen.
»Wir tauchen schon in die Atmosphäre ein«, kommentierte Lion, als ob ich das nicht selbst gewusst hätte. »O Mann, wer weiß, wie das ausgeht…«
Die Kapsel schien sich auf die Hinterbeine zu stellen. Tien hatte den Gravitationsvektor geändert.
Im nächsten Augenblick öffneten sich unter uns die Panzerklappen der Luke und unsere Kapsel fiel in den freien Raum hinaus. Stille. Absolute Stille.
Normalerweise waren wir ständig von Geräuschen umgeben. Sogar in die geschlossene Kapsel drang der Gerätelärm durch das Eis.
Jetzt hörten wir nur unsere Atemzüge.
Unter uns befand sich der Planet.
Nicht mehr als Kugel, sondern als gelb-grüne Ebene, die mit Wolkenflecken bedeckt war. Obwohl noch zu sehen war, wie sie sich am Horizont krümmte und nach unten verschwand. Die Sonne von Neu-Kuweit ging hinter dem Horizont unter unseren Füßen auf und die Eiskapsel funkelte wie Kristall.