Kapitel 2

Wir gingen zu dritt. Das Mädchen lief voran, wir folgten. Die anderen Amazonen verschwanden wieder im Wald, nur ab und zu, wenn ich meinen Kopf bewegte, konnte ich eine leichte Bewegung sehen.

»Wie heißt du?«, fragte ich nach etwa fünf Minuten, als mir klar war, dass das Mädchen kein Gespräch mit uns anfangen würde. »Es ist doch unpraktisch ohne Namen!«

»Natascha«, antwortete das Mädchen.

»Wo gehen wir hin?«

»Das wirst du schon sehen!«

Lion und ich schauten uns an. Da war nichts zu machen!

Ich fuhr mit der Hand am Gürtel entlang. Um das Schlangenschwert herauszureißen, benötigte ich einige Sekunden… Und dann? Ich würde das Mädchen entwaffnen, obwohl es mir unangenehm wäre, sie außer Gefecht zu setzen. Und die anderen? Wenn die uns dann aus allen Richtungen mit ihren Armbrüsten beschießen würden? Ich bin ja kein Phag, der die Bolzen im Flug abfangen könnte!

»Hör mal, was habt ihr eigentlich gegen uns?«, wollte ich wissen. »Wem haben wir denn etwas getan? Darf man hier etwa nicht baden? Oder ist das Privatbesitz? Das wussten wir nicht, wir haben uns ganz einfach verirrt!«

»Schon seit einiger Zeit«, nuschelte Lion.

»Schon seit langem?«, zeigte Natascha plötzlich Interesse.

»Seit über einem Monat!«

»Ihr lügt. In eurer Hütte hat niemand auch nur ein einziges Mal übernachtet, ihr habt sie gerade erst gebaut… Und das eher schlecht als recht!«

Das »eher schlecht als recht« traf mich sehr, ich zeigte es aber nicht. »Früher waren wir an einem anderen See. Aber dort gab es keine Fische mehr und die Nüsse hatten wir auch alle abgeerntet. Deshalb haben wir beschlossen umzuziehen.«

»Wieso? Wie, ihr habt es nicht geschafft in einem Monat wieder in die Zivilisation zu kommen? Dafür muss man ja besonders blöd sein!«

»Wir haben Angst…«, murmelte ich.

»Wie bitte?«, Natascha stoppte und schaute uns an.

»Wisst ihr das denn nicht selbst?«, erwiderte Lion aggressiv. »Seid ihr denn total verblödet? Mit den Leuten hier ist irgendetwas passiert! Sie sind alle eingeschlafen! Bestimmt ist der Planet angegriffen worden! Wir sind sofort weggelaufen, wir waren die Einzigen, die nicht eingeschlafen sind…«

»Und ihr wart so erschrocken, dass ihr einen ganzen Monat über nichts herausgekriegt habt?«, rief Natascha. »Und lebt seitdem im Wald?«

Lion und ich verstummten. Wenn wir auch nur so taten, als ob, es war trotzdem peinlich.

»Jüngelchen…«, sagte Natascha verächtlich. »Es wird zu Recht behauptet, dass man von einem einzigen Mädchen mehr erwarten kann als von einem Dutzend Jungen.«

»Und wer sagt so etwas?«, ereiferte sich Lion.

Natascha schnaubte. »Tja… Das sagt jemand, der sich damit auskennt.«

»Man könnte annehmen, dass ihr nicht erschrocken wart?«, wollte Lion wissen. »Ihr versteckt euch hier wohl nicht, spielt Partisanen und kämpft gegen Inej?«

Nataschas Augen schauten böse und zeigten ihren Verdacht.

»Gegen Inej? Und woher wisst ihr, dass es Inej ist? Wenn ihr doch angeblich sofort weggelaufen seid?«

Ich konnte mich mit Mühe und Not beherrschen, Lion nicht eine runterzuhauen.

Er verbesserte sich aber selbstbewusst: »Zuerst sind wir mit dem Auto gefahren. Dort gab es einen Fernsehapparat, wir haben gesehen, wie der Sultan eine Rede hielt. Er sprach davon, dass wir uns Inej anschließen. Das ist sicherlich irgendeine Waffe. Alle haben eine Gehirnwäsche erhalten, sind jetzt wie Zombies, und bei uns hat es offensichtlich nicht funktioniert…«

»Wir werden ja sehen, ob ihr Zombies seid oder nicht…«, Natascha winkte ab. »Geht voran.«

Und so liefen wir noch zwei Stunden, kamen an einem Dutzend winziger Seen vorbei, kämpften uns durch sumpfiges Gelände (hier kamen auch die anderen Mädchen näher heran und bemühten sich bei uns zu bleiben), bis wir endlich das hügelige Bergvorland erreichten.

Auf den Anhöhen standen dichte Büsche, die Hänge waren kahl, dort wuchs kaum Gras. Natascha sah sich vorsichtig um, so, als ob sie einen Hinterhalt erwarten würde. Es war jedoch niemand zu sehen, lediglich die Vögel lärmten auf den Bäumen. Jeden Abend flogen die Meisen aus dem Wald zum Charitonow-Rücken.

»Habt ihr Angst?«, giftete ich. Natascha schaute mich verächtlich an und zischte durch ihre Zähne:

»Ich bin vorsichtig… Maria!«

Eines der Mädchen lief zu ihr.

»Wann öffnet sich ein Fenster?«, erkundigte sich Natascha.

Maria warf uns einen kurzen Blick zu und holte aus ihrer Jackentasche einen Pocket-PC. Sie schaute auf den Bildschirm: »In siebzehn Minuten gibt es ein Fenster für vier Minuten…«

»Das reicht nicht.«

»In zweiundvierzig Minuten öffnet sich ein Fenster für neun Minuten.«

»Das geht.«

Natascha schaute mich an:

»Könnt ihr rennen?«

»Ähm… Na klar!«

»In vierzig Minuten verschwinden über uns die Satelliten für visuelle Aufklärung«, erklärte Natascha. »Die Satelliten für Energiekontrolle können uns nicht orten.«

Deshalb verwendeten sie also diese primitiven Waffen! Ich nickte.

»In neun Minuten müssen wir es bis dort hoch schaffen…« Natascha zeigte auf eine Hecke, die den nächsten Hügel umgrenzte. »Wenn ihr zurückbleibt, erschieße ich euch! Ehrenwort!«

Ich glaubte ihr.

Lion auch. Das war ganz und gar nicht einfach!

Warum hatte ich nur gedacht, dass wir mit Leichtigkeit die Hecke erreichen würden? Ich konnte immer gut rennen, und in neun Minuten kann man sonst wohin laufen. Ich hatte nur nicht berücksichtigt, dass man den Hang hinaufmusste.

Steine, unscheinbare kleine Sträucher, Löcher — all das kam uns wie bestellt unter die Füße. Gleich am Anfang fielen Lion und ich zurück. Und die Mädchen überholten uns allesamt! Woher nahmen sie nur diese Energie?

Lediglich Natascha und noch ein anderes Mädchen hielten sich hinter unserem Rücken, die Armbrust schussbereit. Und sie fluchten dermaßen, dass man sie auf einem anständigen Planeten sofort in eine geschlossene Anstalt zur Besserung und Umerziehung gesteckt hätte. Obwohl Lion und ich unsere letzten Reserven mobilisierten, war es in erster Linie peinlich, schwächer als die Mädchen zu sein. Und jetzt drohten sie uns auch noch an, einen Pfeil »an die Stelle, wo es am meisten stört« zu jagen, wenn wir auch nur stolperten.

Wir schafften es.

Wir schafften es, nachdem alle Mädchen mit Ausnahme unserer Begleitung, schon die Hecke erreicht und die Armbrust auf uns gerichtet hatten. Wir schnappten nach Luft, konnten unsere Beine kaum noch heben und fielen unter die Bäume. Die erbarmungslosen Wächterinnen, die nicht einmal schnell atmeten, standen neben uns. Hinter ihnen erschien noch ein Dutzend Mädchen, die uns neugierig betrachteten.

»Maschka! Alles klar?«, fragte Natascha als Erstes.

»Ja!«, piepste sie. »Zwanzig Sekunden in Reserve.«

Ich lag auf dem Rücken, atmete schwer und schwor mir, dass ich nie heiraten würde. Und wenn überhaupt, dann eine Muslimin. Sie werden wenigstens so erzogen, dass sie auf ihren Mann hören.

Obwohl man auch von den Russen sagt, dass ihre Frauen ruhig und gehorsam wären. Dabei waren diese Mädchen alle, oder fast alle, Russinnen. Es ist also gelogen.

»Steht auf, ihr Schwächlinge!«, befahl Natascha. »Oder sollen wir euch auf den Arm nehmen wie Kleinkinder?«

Alle Mädchen lachten gemein.

Ich stand auf und verteilte Spucke auf meine Wunden. Lion betastete grimmig seine Füße — er war ja barfuß und musste über spitze Steine laufen.

»Macht ihm einen Verband«, meinte Natascha. Ein Mädchen reichte Lion ein Verbandspäckchen, er jedoch winkte ab und stand auf. Seine Fersen waren zerschlagen und bluteten.

»Wie stolz er ist«, schnaubte Natascha.

Dieses Mal fand sie keinen Beifall.

Eingeschlossen von den Mädchen gingen wir auf die Spitze des Hügels. Warum wohl die Bäume hier so eigenartig wuchsen…

»Tut es weh?«, fragte Natascha entweder mich oder Lion. Wir antworteten beide nicht.


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