Keen konnte seinem Admiral fast die Gedanken vom Gesicht ablesen. In Kriegszeiten hatten sie so vieles gemeinsam erlebt und durchgestanden; und jetzt, angeblich mitten im Frieden, wurden sie mit einem Gegner konfrontiert, der ebenso rätselhaft wie furchterregend war.

Über ihren Köpfen polterten Schritte, dann schrillten die Pfeifen und riefen die Wache an irgendeine neue Arbeit, beaufsichtigt vom scharfen Auge des Ersten Offiziers.

Bolitho entging Keens mitfühlender Blick. Seine Gedanken drehten sich immer wieder im Kreis, als sei sein Kopf ein Gefängnis. Sollte er hier in Boston warten oder nach San Felipe segeln? Es hing ganz allein von ihm ab, wie auch Duncans Tod auf seine Entscheidung zurückging. Keen hatte mit dem überlebenden Midshipman gesprochen, aber nur wenig aus ihm herausbekommen. Dann hatte Bolitho Allday gebeten, den jungen Evans auf seine eigene Art auszufragen, und diese Methode hatte verblüffende Resultate gebracht. Allday besaß eben die Gabe, sich beiläufig und wie nebenbei mit Leuten zu unterhalten, besonders mit halben Kindern wie Evans. Als Allday Bolitho schilderte, was er Evans entlockt hatte, glaubte Bolitho, selbst Zeuge dieses kurzen, mörderischen Treffens gewesen zu sein, das mit Spar-rowhawks völliger Vernichtung geendet hatte.

Ein Wunder, daß der Junge nicht zusammengebrochen war, dachte Bolitho. Schließlich segelten sie nicht in den Krieg, mit dem Tod als allgegenwärtigem Schatten. Es war Evans' erste Reise gewesen, zwar auf einem Kriegsschiff, aber in friedlicher Mission. Auch kam er nicht aus einer Familie von Seeleuten, sondern war der Sohn eines walisischen Schneiders.

Seinen besten Freund und Kameraden wie ein Tier abgeschlachtet zu sehen, dem verwundeten Duncan im Tode Beistand zu leisten, während das tödlich getroffene Schiff unter ihm versank, war mehr, als die meisten seiner Altersgenossen verkraftet hätten. Vielleicht würde der Schock erst später, möglicherweise nach Monaten, auftreten.

Allday berichtete, daß Evans eine Explosion zu hören glaubte, als sein Boot von der sinkenden Fregatte wegpullte. Sie hatten ja nicht einmal Zeit gehabt, das Kombüsenfeuer zu löschen. Wahrscheinlich waren die Flammen auf das Pulvermagazin übergesprungen. So kam das Ende für die an Bord Verbliebenen wenigstens schnell, und die Schockwelle der Explosion hatte die Haie eine Weile von den Schwimmern ferngehalten.

Ein anderer Überlebender, ein erfahrener Artillerist, hatte Allday berichtet, daß das Kanonenfeuer ihres Mörders lauter und heller geklungen hatte, als zu erwarten gewesen war. Er glaubte, daß seine Batterie aus Kanonen bestand, die großkalibriger waren als üblich, wenn auch der Zahl nach reduziert.

Bolitho warf einen Blick auf den Achtzehnpfünder neben seinem Schreibtisch. Wahrscheinlich also Zweiunddreißigpfünder. Aber warum?

Die Tür öffnete sich langsam, und Yovell spähte zögernd herein. Bolitho sagte:»Die Depeschen sind fertig.»

Waren sie denn überhaupt von Bedeutung? Er wußte es besser, und Keen ebenso. Nur leere Worte. Aber die Fakten waren ebenso eindeutig wie grausam: Er hatte ein gutes Schiff mit fast der gesamten Besatzung verloren. Und Duncan, einen nahen Freund und tapferen Offizier. Was sollte aus seiner jungen Witwe werden?

Yovell stand immer noch im Türrahmen.

«Ein Postschiff wirft gerade Anker, Sir«, sagte er.»Es kommt aus England.»

Bolitho starrte ihn an und sah mit Schrecken die Furcht in Yovells rundem Gesicht.

Mein Gott, dachte er, der Mann hat ja Angst vor mir. Aber dann traf ihn die Erkenntnis wie ein Schock: Der Sekretär ängstigte sich vor seiner Gereiztheit, weil das Postschiff möglicherweise keine Nachricht von Belinda mitbrachte.

Als Bolitho das begriffen hatte, fiel es ihm leichter, seine quälende Spannung zu meistern.»Danke, Yovell«, sagte er.»Nehmen Sie die Pinasse und schaffen Sie meine Depeschen auf die Electra. Auch alle Briefe der Besatzung. «Er sah den Sekretär noch zögern.»Und danach lassen Sie sich zum Postschiff rudern, ja? Vielleicht haben sie dort Briefe aus der Heimat für uns«, schloß er.

Bolitho setzte sich und sagte, als Yovell verschwunden war:»Wenn ich zu Ihnen allen ziemlich gereizt war, Val, möchte ich mich entschuldigen.»

Keen nutzte den günstigen Augenblick.»Als Ihr Flaggkapitän, Sir«, sagte er,»steht es mir doch frei, aus gegebenem Anlaß Vorschläge zu machen oder Warnungen auszusprechen?»

«Das stimmt. «Bolitho lächelte grimmig.»Thomas Herrick hat von diesem Recht ausgiebig Gebrauch gemacht, also sprechen Sie ganz offen.»

Keen hob die Schultern.»Sie werden von allen Seiten bedrängt, Sir. Die Franzosen weigern sich, mit Ihnen über San Felipe zu reden, und sie müssen es auch nicht tun, da ja unsere beiden Regierungen über die Zukunft der Insel bereits Vereinbarungen getroffen haben. Die Amerikaner wollen die Franzosen nicht vor ihrer Haustür haben, weil das ihre Strategie in einem zukünftigen Konflikt behindern könnte. Der Gouverneur von San Felipe bekämpft die Übergabe — also Sie — mit allen Mitteln, und ich nehme an, damit hat Admiral Sheaffe von Anfang an gerechnet. Weshalb sich also den Kopf zermartern? Wenn der Gouverneur nicht kapitulieren will, können wir ihn unter Arrest stellen oder sogar in Eisen legen. «Keens Ton wurde härter.»Zu viele Leute sind seinetwegen schon gestorben. Es wäre besser, wenn wir selbst die Insel übernähmen, als ihr Schicksal ihm zu überlassen. Er strebt wahrscheinlich völlige Unabhängigkeit von der britischen Krone an und spielt zu diesem Zweck eine Partei gegen die andere aus — solange wir es ihm gestatten.»

Bolitho lächelte.»Das habe ich auch schon bedacht. Aber der Ve r-lust von Sparrowhawk und der unprovozierte Angriff auf uns passen nicht ins Bild. Wenn mich nicht alles täuscht, war das Schiff ein spanischer Werftbau, doch seine Allerkatholischste Majestät, der König von Spanien, hat keine Einwände gegen die Übergabe von San Felipe erhoben. Also haben wir es entweder mit einem versuchten Staatsstreich zu tun oder mit Piraterie in großem Maßstab. Zum Teufel, Val, nach diesem langen Krieg gibt es doch eine Menge Kapitäne mit der nötigen Erfahrung und auch Verzweiflung für ein Spiel um so hohen Einsatz.»

Keen legte die Fingerspitzen gegeneinander.»Ich weiß, Sir, daß Sie sich jetzt große Sorgen um Ihre Frau machen. «Er sah Ärger in Bo-lithos grauen Augen aufblitzen und fuhr schnell fort:»Das lange Warten muß die Hölle für Sie gewesen sein, besonders nach Ihren Erlebnissen in der Gefangenschaft.»

Ein Boot pullte unter dem Heck vorbei, und Bolitho trat an ein Fenster, um die Passagiere zu mustern. Aber es waren nur Neugierige und ein paar kleine Händler, die immer noch versuchten, mit den Matrosen an Bord das eine oder andere Geschäft zu machen.

Adam war nicht dabei.

Wieder erriet Keen seine Gedanken.»Er ist noch so jung, Sir. Vielleicht war es ein Mißgriff, ihn zum Flaggleutnant zu machen.»

Wütend fuhr Bolitho herum.»Hat Browne das gesagt?»

Keen schüttelte den Kopf.»Es ist meine persönliche Meinung. Ihr Neffe ist ein prächtiger junger Mann und hat meine volle Sympathie. Sie haben von Anfang an die Hand über ihn gehalten, haben ihn behandelt wie einen Sohn.»

Bolithos Widerstandskraft erlahmte.»War das denn so falsch?»

Traurig lächelte Keen.»Auf keinen Fall, Sir.»

Bolitho schritt an Keens Stuhl vorbei und legte seinem Flaggkapitän kurz die Hand auf die Schulter.»Aber Sie haben ganz recht. Ich wollte die Augen davor verschließen. «Er winkte ab, als Keen zu protestieren begann.»Ich habe Adams Mutter nie kennengelernt, niemand kannte sie. Immerhin hat sie ihn den ganzen Weg bis nach Falmouth geschickt, zu mir. Das war vielleicht das einzig Gute, was sie in ihrem Leben tat. Aber was mich betrifft, so haben Sie recht: Ich liebe Adam wie einen Sohn, doch er ist es nicht. Sein Vater war mein Bruder Hugh. Vielleicht hat er Hughs Charakter geerbt…»

Keen stand auf.»Lassen wir es dabei bewenden, Sir. Ihr Grübeln bringt Sie auch nicht weiter, es zermürbt Sie nur. Wir alle blicken zu Ihnen auf. Und ich glaube, uns steht Schlimmes bevor. Wahrscheinlich hat man uns nur deshalb hierher gesandt.»


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